Van Gogh hat gelogen

■ „Gibt es zu Weihnachten Schnee?“: Ein mit Preisen überhäuftes Werk im Kino 46

„Gibt es zu Weihnachten Schnee?“Was für ein Titel. Grobpoetische Filme würden entweder „Gibt es zu Weihnachten Gänseblümchen“heißen oder „Gibt es in Afrika Schnee“. Sandrine Veyssets Erstlingswerk skizziert eine Welt mit allenfalls schneeflockenwinzigem Poesiepotential, vor allem aber handelt es sich um die südfranzösische Fassung von Vilsmaier „Herbstmilch“. Es zeigt eine Agrarsystem, das den Menschen nicht weniger verdinglicht als das gemeinste Fließband.

Strotzend rote Tomaten und die eigenwilligen Köpfe von Salaten diktieren mit ihren unmenschlichen Wachstumsgepflogenheiten den Tagesrhythmus eines jungen Paares und ihrer sieben bildschönen Kinder. Auch unter den blonden Haarschöpfen der Allerjüngsten macht sich neben dem altersgerechten Lachen Überarbeitungsfrust breit. Weil Flucht in Konsum- Sport-, Reise- oder Kinovergnügen nicht finanzierbar ist, retten sich Mutter und Kinder in das einzige Gut, das kostenlos ist: eine grenzenlose, unirritierbare Liebe zueinander.

Neben der Schufterei gibt es dafür noch einen weiteren Grund: Der Vater ist Bigamist. Die Mutter ist zwar seine einzige große Liebe, aber leider die zweite. Doch das erfährt man erst in der Mitte des Films. Der Anfang ist nichts als „men at work“, so puristisch, hymnisch und traurig wie bei Lewis Hines Fotoserie oder James Agees Prosagesang über die Frohn der Arbeit. Zwischenmenschliche Gesten und Sex müssen sich in den strengen Takt des Säens und Erntens einpressen lassen. Und selbst beim liebevollen Blick wird nebenbei eine Kartoffel geschält oder eine Kaffeetasse geschrubbt. Veysetts Schnitt hurtet in kluger Lieblosigkeit, zügig von nah auf fern, links auf rechts umschaltend, damit nur ja kein romantizistisch-einlullender Sog entsteht. „Dokumentarisch“, nennt dies Verfahren Kino-46-Mann Karl-Heinz Schmid, der den Film übrigens für das Beste des 96er Kinojahrgangs hält. In der Tat gelingt es der Regisseurin ein Thema, das den modernen Stadtmenschen weder die Bohne noch die Tomate angeht, zu erschließen. Wir sehen ein staubige Welt, in der die Brauntöne von Kisten und Schlamm regieren. Selbst Sonnenblumenfelder sind im Unterschied zu denen Van Goghs eher beige. Wir erfahren, daß auch eine normensprengende, mutige, verpönte Liebe ganz unspektakulär zum Teil des Alltagsgetriebes degenerieren kann. Vor allem aber lernen wir ein geschlossenes System kennen, das dazu neigt, die Männer zu tyrannischen Ekel umzuformen, die Frauen zu Madonnen, die allerdings an mangelnder Entschlußkraft kranken. Kein Wunder, daß Dominique Reymond, die Darstellerin der Mutter, einen Preis des Fillmfestivals Paris einheimste. Blöde Juroren haben immer schon die Schönheit einer Rolle dem Schauspieler gutgeschrieben. Diese Makellosigkeit der Mutter geht eher auf Veyssets Konto. Vor allem aber ist dort verbucht ein grandioser Mut zu einem Unthema – und einem Untitel.

Barbara Kern

26.-28.3., 20.30 Uhr, 29.-31.3. 18.30 Uhr