Ein Amerikaner in Brandenburg

Der Unternehmer Linden Blue baut in einem ehemaligen Rüstungsbetrieb Straßenbahnen. Und der Wirtschaftsminister fragt sich, wie man Rechte entwaffnet  ■ Aus Mittenwalde Sonja Zekri

Aus der Ferne knallt es. Auf dem Fabrikgelände irrt das Echo zwischen wuchtigen Klinkerbauten umher. Die Detonationen stören dieses friedliche Stück Brandenburg, wo kleine Wälder wie Toupets auf Hügeln liegen und der Kirchturm der Stadt von weitem zu sehen ist. Das ist Mittenwalde im Speckgürtel Berlins. Vertriebsniederlassungen von Aldi, Spar und anderen Giganten drücken die Arbeitslosenquote in der 2.000-Einwohner- Stadt auf zwölf Prozent, und daß die amtlich gezählten dreizehn Ausländer Mittenwaldes noch nicht Opfer gewalttätiger Übergriffe wurden, mag damit zusammenhängen.

Denn zu den Koordinaten Mittenwaldes gehören auch diese: Keine halbe Stunde fährt man zur Glatzen-Hochburg Mahlow, nach Dolgenbrodt, wo Einwohner einen Brandstifter anheuerten, um ein Asylbewerberheim niederzubrennen, oder nach Königs Wusterhausen, wo vor kurzem eine Behinderte mit einer Eisenstange angegriffen wurde. Der Speckgürtel Berlins ist der braune Rand von Brandenburg.

Das alte Fabrikgebäude. Wo Sunlicht Seife kochte und die Nazis Plexiglaskanzeln für ihre Stukas bauten, ist der Sitz der Mittenwalder Gerätebau GmbH (MGB). An der Spitze des Unternehmens steht Linden Blue, ein junger Amerikaner mit Grübchen im Kinn, jungenhaftem Lächeln und Schatten unter den Augen. Er neigt nicht zu vorschnellen Urteilen. Aber weil seine Frau Chollada Thailänderin ist und Herr und Frau Blue und ihre Kinder lange hier wohnten und auch heute noch gern und häufig von Berlin hierherkommen, verfolgt er die Meldungen über die rechte Gewalt sehr genau.

Nein, große Angst habe er noch nicht, sagt Linden Blue. Nach Berlin-Zehlendorf ziehe er seiner Frau zuliebe, die dort mehr amerikanische Freunde habe. Beim Sprechen verteilt Blue die Pausen so bewußt, daß eine winzige Distanz entsteht, als rede er durch eine dünne Folie. Ja, er könne sich vorstellen, in Brandenburg zu wohnen. Überall in Brandenburg? „Ja, überall.“ Auch in Mahlow? „Well“ – Pause –, das würde man sich wohl zweimal überlegen.

Es knallt schon wieder. „Das ist der Schießstand“, sagt Herr Blue, als wären Schießstände in dieser Gegend obligatorisch. Dann eilt er voraus zur Produktion. Sein Gang ist raumgreifend und etwas O-beinig, und man denkt an die Prärie und Öltürme, die einem nicht einfielen, wüßte man nicht, daß Linden Blue in Denver geboren wurde, daß sein Vater in Colorado ein Vermögen mit Ölförderung verdiente und daß den Blues der kalifornische Millionenkonzern General Atomics gehört.

Linden Blue öffnet das Tor zur Werkshalle und damit zu einer der ungeheuerlichsten Konversionsgeschichten, die die Wende schrieb. Straßenbahnen ruhen hier auf Böcken, wie Zigarren mit bunten Deckblättern, ausgehöhlt bis auf die Wände oder in Scheiben zerlegt, die Kabelstränge hängen auf den Boden. Während der Diplomchemiker Blue hier in bröckeligen Lack pikst, dort ins Führerhaus steigt, erzählt er von seiner Liebe zu allem, was auf Schienen fährt. Daß er gerade in Deutschland begeistert Straßenbahn gefahren sei. Jawohl, in Deutschland, wo die Verwandtschaft seiner Mutter lebe. Sie stammt aus Leipzig und ging nach dem Krieg nach Amerika. Ihr Mädchenname „Prause“ ist Linden Blues Mittelname.

Die 150 Männer und Frauen der Belegschaft haben zu Linden Prause Blue ein so indifferentes Verhältnis wie zur fremden Dollarnote. „Herr Blue hat sich nie bedroht gefühlt“, sagt der Mann auf dem Gabelstapler, als hätte er selbst sich baseballschwingenden Skins entgegengeworfen. Dann überlegt er kurz: „Ich will mal so sagen: Der fällt ja auch gar nicht auf.“ Aber Blues „Thai“-Frau schon. „Und die Kinder sehen bestimmt genauso aus.“ Linden Blue möchte nur Gutes berichten. Er betont, daß die Brandenburger stets freundlich waren zu seiner Familie. Und verweist auf die wenigen Kontakte von Menschen auf dem Land zu Ausländern. Schiebt dann aber energisch hinterher: „Das entschuldigt natürlich gar nichts.“

An den Werkbänken sind die Rechten kein Thema. „Mein Sohn hat auch kurze Haare“, sagt einer der Arbeiter und markiert mit zwei Fingern halbe Streichholzlänge. „Haben sie doch alle heute.“ Und sei es ein Wunder, wenn die Brandenburger Jugend auf dumme Gedanken komme? „Früher“, sagt der Gabelstaplerfahrer, „hat man denen auf die Finger geguckt, erst in der Schule, dann in der Armee und später im Betrieb.“

Daß den Arbeitern in Mittenwalde zu DDR-Zeiten auf die Finger geschaut wurde, dürfte außer Zweifel stehen. Die Mittenwalder Waffenschmiede gehörte zum berüchtigten Rüstungskombinat „Spezialtechnik Dresden“. Seit 1952 wurden hier Gewehre und Flakgeschütze für die sozialistischen Bruderstaaten repariert, Feuerleitsysteme, Panzerabwehrraketen und High-Tech-Waffen konstruiert. Für Amerikaner wie Linden Blue war Mittenwalde ein ethischer Un-Ort, ein blinder Fleck auf Uncle Sams Landkarte von Freiheit, Recht und Marktwirtschaft.

Wenn der Amerikaner über das Ende der Rüstungsfabrik redet, dann liegt in seiner Stimme kein Triumph, sondern Andacht. Der Gedanke, daß Mittenwalde „praktisch mit der Wende“ alle Aufträge verlor, rührt an Urängste des Unternehmers. Vor sechs Jahren kaufte der High-Tech- und Nuklear-Multi General Atomics die ganze Spezialtechnik Dresden für fast 60 Millionen Mark von der Treuhand. Und Linden Blue sucht nun Ersatz für den belasteten Namen „Spezialtechnik“. Etwas mit „atlantisch“ oder „europäisch“ und „Technologie“.

Auch in den anderen Standorten der Spezialtechnik, in Lübben, Lauchhammer und Dresden, hat die Konversion geklappt. In keinem Werk aber war die Umstellung radikaler als in Mittenwalde, dem „Vorzeigeprojekt der Konversion“, wie man im Wirtschaftsministerium schwärmt. Direkt nach der Wende, als die Ost-Städte ihre Tatras auf West-Niveau bringen ließen, mußten Hunderte Ost- Bahnen für Berlin, Halle oder Cottbus renoviert werden. Inzwischen haben auch Siemens und Adtranz die Marktnische entdeckt. Die Spitzenumsätze von 70 Millionen Mark pro Jahr sind auf 50 Millionen gesunken. Daß die Mittenwalder eine Methode gefunden haben, normale Straßenbahnen durch den Einbau eines leichten Mittelteils preisgünstig zum modernen Niederflurwagen umzurüsten, kann die Auftragsbücher nicht füllen.

80 Prozent der Belegschaft standen schon vor der Wende in den Werkshallen, „von der Technik her“ sei das „keine große Umstellung“ gewesen. Manfred Dommisch sagt es deutlicher: „Kommt doch nur drauf an, auf welcher Seite man geboren wurde“, bollert er, „und wir sind eben auf der falschen Seite geboren.“ Dommisch, ein kantiger Kerl mit Seehundschnäuzer, war damals Betriebsdirektor in Mittenwalde. Die letzte Panzerabwehrrakete steht noch in seinem Schrank. „Nach der Wende kamen sie aus der ganzen Welt angefahren, um sich bei uns umzusehen“, sagt er verächtlich. „Ein Gerenne war das!“

Heute ist Dommisch Vorsitzender der MBG-Geschäftsführung. Er ist deutlich älter als der 34jährige Blue. Die beiden kommen klar, eine Männerfreundschaft ist es nicht. Dommisch, der Mann aus dem Dorf Motzen bei Mittenwalde, hat wenig gemeinsam mit dem Amerikaner, der in Denver und Dresden, in der damaligen Sowjetunion und in Thailand gearbeitet hat. Linden Blue kennt die Welt, aber Manfred Dommisch kennt Mittenwalde.

Und das kann von Vorteil sein, wie sich bei einem Besuch am Schießstand – mit Blue, ohne Dommisch – herausstellt. Der flache Bunker liegt fast schon auf freiem Feld. Der Pächter ist angetrunken. Ob er Probleme mit Rechtsradikalen...? – „Nein!“ – Ob wir – ein Foto...? „Nein!!“ Ein dicker Junge beobachtet durchs Fernglas, wie sein Vater auf eine der Scheiben zielt. Whamm!! Und dann riecht es wie Silvester. Ein alter Mann mit Schlägermütze packt seinen Revolver aus. „Sie wollen wissen, was so schön ist am Schießen?“ fragt er aggressiv, „es ist GEIL!!“

Dommisch tut erstaunt. „Daß der Pächter so unfreundlich ist! Dabei ist er mit der Pacht zwei Monate im Rückstand“, sagt er, verläßt die weißgoldene Party-Tram, telefoniert kurz: „Er wird sich freuen, Sie zu empfangen.“ Früher, sagt Dommisch fast ohne Nostalgie, früher haben sie Schießstände wie diesen bis in die Mongolei, sogar zur Olympiade in Moskau geliefert: „Früher trainierten hier DDR- Spitzensportler.“ Und beiläufig rutscht ihm raus: „Was meinen Sie, wie oft wir nachts die Rechten mit ihren Pitbulls verjagen müssen.“ Aus Mittenwalde? „Ach was, kommen doch alle aus Berlin.“

Linden Blue weiß, daß das nicht stimmt. Rezepte gegen die Verdrängungstaktik hat er nicht, und das ist nicht seine Aufgabe. Er hat bemerkt, daß das Ideal einer freien Gesellschaft in Brandenburg nicht viel zählt, aber das haben andere auch. Er fordert mehr Freizeitangebote, aber die werden die 80 Orte des Landes, die laut Innenministerium von gewalttätigen Jugendlichen dominiert werden, nicht in Kurorte verwandeln. Manchmal packt ihn die Sehnsucht nach anderen Hautfarben. Dann fährt er in Berlin mit der U-Bahn.

Im Wirtschaftsministerium beobachtet man aufmerksam jeden Tritt der Springerstiefel gegen den Standort Brandenburg. In Investorengesprächen, bei der Auslandsakquise, auf Touristikmessen müssen sich die Brandenburger Wirtschaftsbosse Fragen gefallen lassen. Und Wirtschaftsminister Burkhard Dreher sorgt sich, daß sie eines Tages „gar nicht erst erfahren, wer mit uns geredet hätte, wenn wir ein offenes Investitionsklima gehabt hätten“.

Die Argumente hinter diesen Konjunktiven kennt Linden Blue von amerikanischen Geschäftsfreunden. Es sind keine moralischen Bedenken. „Radikalismus“, sagt Blue, „gilt als Zeichen für soziale und politische Instabilität“ und damit als letztes in einer Kette von Vorurteilen über eine marode Wirtschaft und lähmende Bürokratie. „Sie glauben, dieses Land ist so arm, daß die Gewalt eine Folge der Verelendung ist“, sagt Blue. „Das ist falsch, aber so denken sie.“ Im Wirtschaftsministerium ist eine Kampagne in Planung: Man wolle zeigen, „daß wir den Ausländern dankbar sein müssen“, sagt Jens Rocksien, der Leiter des Ministerialbüros. Denn Linden Blue ist nur einer von 48 Brandenburger Industrieunternehmern, die fast 16.000 Arbeitsplätze schaffen. „Wenn das Bedürfnis nach Toleranz nicht aus der Gesellschaft wächst“, sagt Rocksien, „dann muß es von den Verantwortlichen im Land implantiert werden. So traurig das ist.“

Allein der Gedanke, ein Investor wie Blue könne sich eines Tages vertreiben lassen von der Gewalt der Jugendlichen, der Passivität der Brandenburger und der „Heile, heile, Gänschen“-Politik der Regierung, löst in Potsdam Schockwellen aus. „Das hätte eine verheerende Signalwirkung“, sagt Jens Rocksien. Für Linden Blue ist diese Frage nicht nur akademisch. „Wenn meine Familie bedroht wäre, würde ich mir das überlegen.“ U-Bahn-Fahren in Berlin könnte da nichts mehr retten.