Ackern für ein wenig Geld

Im Westen der Ukraine verdienen viele ihren Lebensunterhalt mit Jobs in Polen oder Tschechien. Wer nicht ein Stück Land und ein paar Tiere hat, ist arm dran  ■ Aus Ivano-Frankovsk Barbara Oertel

Eingehüllt in dicke Mäntel und Jacken, die Köpfe unter Pelzmützen und Wollschals versteckt, quetscht sich das Volk durch die Eingangstür. Im Foyer lauern bereits mehrere junge Männer, um die Ankömmlinge mit Flugblättern zu beglücken. „Staatlichkeit, Wohlstand, Erfahrung, Patriotismus, Professionalität, Ordnung: Unsere Probleme werden von unseren Leuten gelöst – stimmen Sie für Wassili Kostinski“, steht darauf geschrieben. Im Sitz der Gebietsregierung von Ivano-Frankovsk, einer 250.000-Einwohner-Stadt im Westen der Ukraine, hat heute, wenige Tage vor den Parlaments- und Kommunalwahlen am kommenden Sonntag, die Nationale Front, ein Zusammenschluß aus drei nationalistischen Parteien, ihren großen Auftritt. Der Saal ist restlos überfüllt. Leben kommt in die Menge, als die Spitzenkandidaten für das ukrainische Parlament einziehen. Als erster ergreift der Bischof der Ivano-Frankovsker Diözese das Wort. „Nicht wählen zu gehen, ist eine große Sünde. Zur Wahl zu gehen und für unehrenhafte Leute zu stimmen, ist eine Todsünde!“ donnert es durch den Saal. Das Publikum applaudiert, dann erheben sich alle und singen die Nationalhymne.

Die nächste Rednerin, Slawa Stezko, Chefin des Kongresses der Ukrainischen Nationalisten (KUN), legt nach. „Wir müssen Herren über den ukrainischen Boden sein“, sagt sie. „Wir müssen alles dafür tun, daß es zwischen dem Westen und dem Osten der Ukraine keinen Unterschied mehr gibt, daß das Volk vereint ist. Dafür ist unerläßlich, den Moskauer Politikern Widerstand entgegenzusetzen, die ihre Hand nach der Ukraine ausstrecken. Das gilt auch für Herrn Jelzin, der vom einem gemeinsamen Staat mit der der Ukraine und Weißrußland träumt. Das klappt nicht, Herr Jelzin, das hier ist schon ein anderes Volk, ihm gefällt die russische Herrschaft nicht, egal in welcher Form!“ Die Rednerin scheint den Nerv getroffen zu haben, das Publikum rast. „Es lebe die Ukraine“, grölt jemand in den Saal.

Daß gerade im Westen der Ukraine nationalistische Parteien wachsenden Zulauf haben, verwundert kaum. Immerhin nahm hier mit der Volksbewegung Ruch noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Unabhängigkeitsbewegung ihren Anfang. War es jedoch früher vor allem Ruch, die unangefochten die blau-gelbe Fahne hoch hielt, sehen sich die angestammten Patrioten mit dem nationalistischen Block jetzt ernsthaften Konkurrenten gegenüber.

In der Nähe des Gebäudes der Gebietsregierung auf dem Adam- Mieckiewitz-Platz, das etwas spöttisch „weißes Haus“ genannt wird, aber schon länger keine frische Farbe gesehen hat, ist Politik kein Thema. Auf den Bänken sitzen alte Männer, tief über Schachbretter gebeugt. Mit klammen Fingern schieben sie die Figuren hin und her, ab und zu wischt einer die dünne Schneeschicht vom Brett.

Gegenüber dem Platz, in einer Seitenstraße, wartet eine junge Frau, die sich Katarina nennt, auf Kundschaft. An der Vorderfront des kleinen Ladens, der erst vor kurzem geöffnet hat, prankt eine riesengroße Coca-Cola-Reklame. Warum die Leute, mit einem nominellen Durchschnittslohn von 150 Griwna (umgerechnet 150 Mark), hier nicht Schlange stehen, wird nach Betreten des privaten „Minimarktes“ deutlich. Die Vitrinen in dem grellbeleuchteten und weißgefliesten Raum sind auf Hochglanz poliert. Die Waren sind fein säuberlich und appetitlich gestapelt, doch ukrainische Produkte gibt es kaum. Dafür kann man deutschen Sahnejoghurt im Viererpack zu 2 Griwna kaufen, polnische Würstchen zu 3,50 Griwna, bulgarischen Wein für 6 und Nescafé für 12 Griwna.

Ein paar Schritte von „Katarina“ entfernt trotzen drei andere Frauen tapfer Kälte und Schnee. Vor ihnen, auf einem Holztisch, stehen schwarze Plastikeimer voller Rosen. Sobald sich jemand dem Stand nähert, springt eine von ihnen hinter dem Tisch hervor und hält dem potentiellen Interessenten einen Strauß hin. „Jetzt im Winter kaufen nur wenige Leute Blumen“, sagt sie. Mehrmals in der Woche steht die 64jährige an diesem Platz. Wenn sie am Abend fünf Griwna in der Tasche hat, war es für sie ein guter Tag. „Ich bekomme 37 Griwna Rente. Nur für die Wohnung, für Gas und Strom, muß ich 60 Griwna im Monat bezahlen.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Jetzt bei den Wahlen... Es gibt so viele Parteien, da finde ich mich überhaupt nicht zurecht. Ich will doch nur, daß es für uns endlich besser wird, aber welche Partei dafür steht, weiß ich nicht.“

Bei monatlichen Renten von durchschnittlich 40 Griwna ist die Rosenverkäuferin kein Einzelfall. Wer nicht wenigstens einen kleinen Garten hat, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen, ist arm dran. Nicht zuletzt deshalb geht für viele RentnerInnen das Arbeitsleben weiter. Nur bleibt der verdiente Lohn für die geleistete Arbeit häufig aus. Mittlerweile belaufen sich die Schulden der Ivano- Frankovsker Gebietsregierung gegenüber den Beschäftigten auf 150 Millionen Griwna.

Auch die anderen Daten sehen nicht viel besser aus. Offiziell liegt die Arbeitslosenquote im Ivano- Frankovsker-Gebiet mit 1,5 Millionen Einwohnern bei acht Prozent. Jedoch sind diejenigen, die zumindest für einige Monate pro Jahr im benachbarten Ausland ihr Geld verdienen, in keiner Statistik erfaßt. Das gleiche gilt für die Mitarbeiter der im Ivano-Frankovsker-Gebiet ansässigen Großbetriebe des militärisch-industriellen Komplexes, die die Leitung auf unbestimmte Zeit in Urlaub geschickt hat. Daher gehen Schätzungen über die tatsächliche Zahl derer, die keinen Job haben, vom Drei- bis Vierfachen der offiziellen Zahl aus. Laut einer Umfrage will jeder zweite Jugendliche unter 25 Jahren aus Ivano-Frankovsk oder der näheren Umgebung seine Heimat Richtung Ausland verlassen – ohne Rückfahrkarte.

Trotz der wenig rosigen Bestandsaufnahme bemüht sich Mykola Schribljak, in der Gebietsverwaltung zuständig für Industriepolitik, Handel und Banken, Optimismus zu verbreiten. „Die Entwicklung ist positiv“, sagt er und schiebt eine Statistik über den Tisch. Daraus geht hervor, daß die Industrieproduktion im Februar dieses Jahres im Vergleich zum gleichen Monat des Vorjahres um 22 Prozent gestiegen ist. So sind die Produktionskapazitäten des Chemiegiganten Oriana mit 16.500 Beschäftigten zu 85 Prozent ausgelastet. Auch die verarbeitende Industrie für Erdgas und Öl, unterstützt durch die günstige geographische Lage der Region als Verbindung zwischen Ost und West, kann erste Erfolge verbuchen. Immerhin führt mittlerweile der Weg des russischen Erdgases nach Westeuropa zu 80 Prozent über das Ivano-Frankovsker-Gebiet – was sich die entsprechenden, dort ansässigen, Transportunternehmen auch gut bezahlen lassen.

„Unser größtes Problem, vor allem für die Entwicklung kleiner und mittelständischer Betriebe, ist nach wie vor unser Steuersystem“, sagt Mykola Schribljak. Von einem verdienten Griwna müssen 82 Kopeken an den Staat abgeführt werden. „Das erdrosselt jeden Betrieb“, sagt Schribljak. Für Bankkredite sind derzeit 65 Prozent Zinsen zu zahlen. Da die Rücklagen der Betriebe durch die Hyperinflation der Jahre 1994/95 aufgezehrt wurden, ist an Investitionen kaum zu denken. Trotzdem stammten im vergangenen Jahr 55 Prozent der Steuereinnahmen für die Gebietskasse von kleinen und mittelständischen Firmen. „Nicht zuletzt das beweist doch, daß wir auf dem richtigen Weg sind“, sagt Schribljak. Ihre Hoffnungen auf eine Besserung der desolaten Lage setzen die Verantwortlichen in Ivano-Frankovsk auch auf eine Entwicklung des Tourismus in der nahe gelegenen Karpatenregion. 300.000 Ecu will die Europäische Union in diesem Jahr für ein Evaluierungsprogramm ausgeben, daß die diesbezüglichen Möglichkeiten untersuchen soll.

Auch Ivan Vassilliewitsch, Vorsitzender des Rats von Mikulytschyn, einem Karpatendorf etwa eine Autostunde von Ivano-Frankovsk entfernt, hat schon etwas von den hochtrabenden Plänen zur Tourismusentwicklung gehört. Der Herr über die Geschicke des mit 15.760 Hektar flächenmäßig größten Dorfs in der Ukraine empfängt in einem kleinen Zimmer im örtlichen Rat. Dort gibt es außer einem Tisch und drei Stühlen, die Übergewichtige besser nicht benutzen sollten, nur noch die obligatorisch dunkel gebeizte Schrankwand. Von den Wänden kräuselt sich eine vergilbte Blumentapete. Die Miene von Vassiliewitsch ist so düster wie sein abgetragener Anzug. Eigentlich will er gar nichts sagen. Eigentlich nicht heißt dann aber doch. „Hier im Dorf hat niemand Arbeit. Die Leute gehen nach Polen oder Tschechien, um zu arbeiten. Wer das nicht kann, schlägt sich mit dem durch, was er hat, ein paar Tiere, ein Stück Land“, sagt er.

Den Dorfvorsteher beunruhigen die Tätigkeiten der Einwohner von Mikulytschyn im Ausland. Daß später ein paar Jahre für die Rente nicht angerechnet werden, ist das eine. Das andere ist, daß nichts in die örtliche Kasse kommt. Die ist leer, zumal auch die Einnahmen aus den vier Ferienlagern mit insgesamt 1.000 Plätzen zurückgehen. Ein drei- bis vierwöchiger Aufenthalt kostet jetzt 200 Griwna. „Die hat jetzt kaum noch jemand“, sagt Ivan Vassiliewitsch.

An der Tür des Ratsgebäudes klebt ein Plakat. „Am 29. März finden die Wahlen statt. Bürger, gebt eure Stimme ab“, ist dort zu lesen. Ein Mann hält kurz inne. Seine Füsse stecken in Gummigaloschen. Über den ausgebeulten Hosen trägt er eine wattierte Jacke. Petro Giliak braucht seine Kinder nicht zur Erholung nach Mikulytschyn zu schicken. Mit Frau und drei Töchtern bewohnt er ein Holzhaus, nur wenige hundert Meter vom Dorfrat entfernt. Jetzt wartet er auf seinen Schwager, der eine Fuhre Heu bringen soll. Kurze Zeit später biegt der Schlitten um die Ecke. Das Pferd kommt auf der verschneiten Straße nur mühsam vorwärts. Am Ziel angekommen, beginnen beide, das Heu abzuladen. Als alles in einem kleinen Speicher verstaut ist, bittet Petro Giliak ins Haus.

In dem Zimmer steht ein Fernseher, der mit einer Plastikfolie abgedeckt ist. Über dem Bett ist eine grobe Filzdecke ausgebreitet. Der Kachelofen kommt kaum gegen die Kälte an. „Wir haben es schwer“, sagt Petro Giliak. „Für einen Liter Milch bekomme ich heute 55 Kopeken. Wir müssen sie selbst zum Markt bringen, aber bei den Preisen lohnt sich das nicht mehr.“ Der 50jährige arbeitet 40 Kilometer von Mikulytschyn entfernt als Fahrer für 20 Griwna im Monat. Seine Frau verdient als Kassiererin 60 Griwna. „Wir wären schon längst verhungert, aber wir haben ja unsere Tiere“, sagt Petro Giliak. Zum Lebendinventar der Familie gehören eine Kuh, zwei Kälber, ein Ferkel, einige Kaninchen und ein paar Hühner. „Wir kaufen nur Brot und manchmal Zucker“, sagt Petro Giliak. „Für alles andere sorgen wir selbst.“ Die älteste Tochter kommt mit einer Teekanne und Tassen ins Zimmer. „Sie macht ein Fernstudium in Buchhaltung“, sagt ihr Vater stolz. Dann überlegt er kurz. „Danach findet sie sowieso keine Arbeit. Aber wenigstens gibt es eine Unterstützung vom Staat: zwölf Griwna!“