„Hauptproblem bleibt das Stillen der Kinder“

■ Isabel de Vencenzy, Epidemiologin bei UN-Aids, meint, in den armen Ländern müsse der Einsatz von Aids-Medikamenten gut vorbereitet werden. „Es reicht nicht, allein die Arznei zur Verfügung zu stellen“

taz: 51 Prozent aller HIV-Ansteckungen von der Mutter zum Kind könnten, einer neuen Studie zufolge, durch eine kostengünstige Kurzzeit-Therapie mit dem Medikament AZT verhindert werden. Ist das eine Chance für die Entwicklungsländer?

Isabel de Vencenzy: Ich möchte zunächst daran erinnern, daß an dieser Studie ausschließlich Frauen beteiligt waren, die ihre Babys nicht gestillt haben. Das ist sehr wichtig, weil wir befürchten, daß die Wirksamkeit der Kurzzeit- Therapie durch Ansteckungen über das Stillen wieder zunichte gemacht werden. In welchem Land auch immer mit solch einer Therapie begonnen wird – wir müssen zuerst fragen, ob die Kinder gestillt werden. Es reicht nicht, allein die Arznei zur Verfügung zu stellen. Die Frauen müssen zuerst getestet werden. Wir müssen wissen, welche Frauen überhaupt infiziert sind. Das ist in vielen Ländern keineswegs selbstverständlich. Natürlich sollten die antiviralen Arzneimittel auch in den Entwicklungsländern zugänglich gemacht werden. Aber wir müssen das gründlich vorbereiten. In einigen Ländern Lateinamerikas ist man schon soweit. Die Betreuung der Frauen ist dort gut organisiert, die Schwangeren werden rechtzeitig auf HIV- Antikörper getestet. Dort könnte man diese Therapie etablieren.

Wissenschaftler der US-Gesundheitsbehörde CDC haben die Ergebnisse der Thailand-Studie als großen Schritt nach vorn bezeichnet. Aus Ihren Worten höre ich jetzt sehr viel Skepsis heraus.

Nein, nein. Diese Studie ist wirklich ein ganz großer Schritt. Viele schwangere Frauen weltweit können erstmals behandelt werden. Wir können viele Kinder retten. Und wir können jetzt mit den Regierungen über all die anderen Dinge reden, die damit in Zusammenhang stehen. Es ist ein dickes Paket, das wir da schnüren.

Jedes Jahr infizieren sich eine halbe Million Kinder mit HIV. Sehen Sie eine Chance, diese Zahl jetzt zumindest zu halbieren?

Zu diesem Zeitpunkt kann ich keine Prognose abgeben.

Wo sehen Sie das Hauptproblem? Im fehlenden Geld?

Das Hauptproblem ist die Frage des Stillens. Sie müssen sich klarmachen, daß das Stillen Millionen von Kindern in den Entwicklungsländern das Leben gerettet hat, weil dort das Wasser oft verseucht ist und Milchpulver-Zubereitungen immer gefährlich sind. Es gibt ein schreckliches Infektionsrisiko. Wenn Sie jetzt plötzlich den Frauen sagen, daß sie wegen HIV und Aids auf das Stillen verzichten sollen, dann müssen Sie diese Frauen nach Kräften unterstützen. Sie müssen künstliche Kindernahrung, die teuer ist, zur Verfügung stellen, den Frauen zeigen, wie man sie sicher zubereitet.

Wenn all diese Dinge geregelt werden, bleibt immer noch das Kostenproblem für die Arznei selbst. Hersteller Glaxo-Wellcome will die Preise senken. Wird das ausreichen?

Wir verhandeln seit langem mit den Herstellern. Ich bin überzeugt, daß die Medikamente durch die Preissenkungen für einige Länder tatsächlich verfügbar werden. Für andere Länder wird die Reduzierung vielleicht nicht ausreichen.

Wieviel wird das AZT kosten?

Maximal 75 Prozent des heutigen Preises. Wobei Glaxo-Wellcome allerdings angekündigt hat, daß sie die Kosten nicht für jedes Land einheitlich handhaben will. Aber wir reden immer nur über den Preis. Warum reden wir nicht darüber, daß dieses Medikament in den ärmsten Ländern kostenlos verteilt werden sollte...

Die „Thailand-Studie“ wurde wegen des Placebo-Einsatzes (ein Teil der Schwangeren bekam nur ein Scheinmedikament) scharf kritisiert. Es wurden dadurch viele Ansteckungen in Kauf genommen. War das notwendig, wo man doch das Ergebnis einer Null-Therapie überall beobachten kann?

Wir haben unsere Argumente immer wieder dargelegt. Wir wußten nicht, wie groß die Wirksamkeit der Kurzzeit-Therapie tatsächlich sein würde, und wir wußten auch nicht, wie hoch die Ansteckungswahrscheinlichkeit in solch einer Gruppe sein würde; die Abschätzungen zur HIV-Übertragung von der Mutter zum Kind schwanken von knapp unter 20 bis zu 45 Prozent. In unserer Studie waren es unter den spezifischen Umständen am Ende 18 Prozent in der Placebo-Gruppe. Welche der vielen unterschiedlichen Schätzungen hätten wir denn übernehmen sollen?

Vielleicht einen Mittelwert. Man hätte die Kurzzeit-Therapie statt mit Placebo ja auch mit dem westlichen Standard vergleichen können.

Das war aber nicht unsere Fragestellung. Wir wußten, daß jede Kurzzeit-Therapie schlechter ist als die Standard-Therapie in den Industrieländern (dreimonatiger Einsatz von AZT mit nachgeburtlicher Fortsetzung). Aber wir wußten nicht, was sie im Vergleich zu Placebo bringt. Jetzt wissen wir, daß wir eine Reduzierung der Ansteckungen von 51 Prozent haben. Diese wichtige Zahl hätten sie nicht bekommen ohne den Vergleich mit der Gruppe, die nur ein Scheinmedikament bekam. Ein ganz anderes ethisches Problem ist die Frage, wie man die Frauen behandelt. Man gibt ihnen drei Wochen lang ein wirksames Medikament gegen Aids. Und dann wird diese Therapie plötzlich abgebrochen. Es ist eine Therapie für das Baby. Aber wer hilft den infizierten Müttern? Ist es ethisch vertretbar, sie drei Wochen zu behandeln, nur um dann zu sagen: Tut uns leid, aber das war's...