30 Parteien für ein Parlament

Die Wahlen in der Ukraine werden am Sonntag darüber entscheiden, welche der vielen neuen Gruppierungen sich dauerhaft stabilisieren können  ■ Aus Kiew Barbara Oertel

An den Wohnungstüren stecken weiße Zettel: „Für den Sozialismus, eine kostenlose medizinische Versorgung und Ausbildung. Für einen Bruderbund mit den Völkern der Sowjetunion. Stimmen Sie für die Kommunisten!“ steht darauf geschrieben. Zum zweiten Mal seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 haben die UkrainerInnen morgen die Wahl. Und die wird ihnen nicht leichtgemacht. 30 Parteien und Wahlbündnisse konkurrieren um Sitze im Parlament. Die Hälfte der 450 Sitze wird über Parteilisten vergeben, über die verbleibenden 225 Sitze entscheiden die WählerInnen per Direktwahl. Für einen Einzug ins Parlament sind vier Prozent der Stimmen erforderlich. Da gleichzeitig auch Kommunalwahlen stattfinden, werden sich die WählerInnen mit bis zu sieben Stimmzetteln herumschlagen müssen.

Was die einzelnen Parteien genau unterscheidet, wissen selbst Insider nicht genau. So tritt neben der Sozialdemokratischen Partei der Ukraine auch noch die Vereinigte Sozialdemokratische Partei an, und allein 20 Gruppierungen laufen unter dem Label „zentristisch“. Trotz dieses Wirrwarrs mißt Wjatscheslaw Pichovschuk vom Zentrum für unabhängige Politikforschung den Wahlen immense Bedeutung bei. „Bei uns sind Wahlen immer noch so etwas wie eine Revolution. Sie sind eine Entscheidung zwischen der Vergangenheit und der Zukunft“, sagt er. Stabile Parteien werden, so Pichovschuk, erst aus den Parteien hervorgehen, die den Sprung ins Parlament schaffen.

Und das sind laut den letzten Umfragen fünf Parteien oder Bündnisse. Neben den Kommunisten, die traditionell im Osten des Landes stark sind und auf einen festen Wählerstamm bei den RentnerInnen bauen können, haben die Sozialdemokratische Partei, die Sozialistische Partei im Block mit den Agrariern, die Volksbewegung „Ruch“ und die Partei der Grünen gute Chancen, im nächsten Parlament vertreten zu sein.

Besonders die Grünen sorgten in den letzten Tagen für eine Überraschung. Unter dem Motto „Gibt es nach der Katastrophe von Tschernobyl einen Ausweg? Ja, tun Sie sich mit uns zusammen!“ ist die Partei mit den entsprechenden Gruselfotos vom GAU mehrmals täglich im Fernsehen präsent. Das Konzept geht auf. Mittlerweile liegen die Grünen hinter den Kommunisten an zweiter Stelle. Woher das Geld für die großangelegte Kampagne stammt, ist kein Geheimnis: Fünf der zehn Spitzenkandidaten der Partei sind gutbetuchte Geschäftsleute. 20 grüne Kandidaten auf den vorderen Listenplätzen sitzen beim größten ukrainischen Geldinstitut auf leitenden Managementposten.

Das veranlaßte den ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma unlängst dazu, vor halbkriminellen Clans zu warnen, die sich Sendezeit kauften. Überhaupt ist das Staatsoberhaupt, dessen Hausmacht im Parlament, die Volksdemokratische Partei (NDP) nach den Wahlen kaum mehr vertreten sein dürfte, im Umgang mit der Opposition nicht zimperlich. Der Wahlkampf habe gezeigt, so Kutschma, daß eine kriminelle Wirtschaftselite mit allen Mitteln versuche, die staatlichen Strukturen zu unterwandern.

Für Aufsehen sorgte kürzlich auch der Fall von Michail Brodski. Der Geschäftsmann, der sowohl fürs Parlament als auch für den Posten des Kiewer Bürgermeisters kandidiert, hatte Kutschma und seiner Regierung mehrmals öffentlich Korruption vorgeworfen. Vor drei Wochen wurde Brodski verhaftet. Die Anklage lautet auf illegalen Geldtransfer ins Ausland.

In der vergangenen Woche erwischte es Pawel Lasarenko. Dem Ex-Regierungschef und Parlamentsabgeordneten werden Amtsmißbrauch, persönliche Bereicherung und illegale Geldgeschäfte vorgeworfen. Vor wenigen Tagen wandte sich die Staatsanwaltschaft an das Parlament mit der Bitte, die Immunität von Lasarenko aufzuheben. Rein zufällig versucht Lasarenko sein politisches Comeback als Chef der rechtsliberalen Partei Hromada, und rein zufällig kündigte Hromada, die zu den schärfsten Widersachern von Kutschma gehört, an, gegen den Präsidenten ein Impeachment-Verfahren wegen Staatsverrats einleiten zu wollen.