„Mental gehemmt“

■ Die Uni widmet ihrer Geschichte nur einen kleinen Abstellraum / Ein Archiv fehlt bis heute / Staatsarchivare attestieren der Uni Probleme mit der eigenen Vergangenheit

Kurz bevor Eberhard Scholz das Zimmer 1190 aufschließt, flüstert der Unimitarbeiter beruhigende Worte: „Bitte brechen Sie nicht in Entsetzensschreie aus.“Dann schlägt die Tür von innen zu. Akten, Bücher und Schriftenreihen lagern hier – in einfache Stahlregale gestopft. Dazwischen stehen alte Fernseher und Schreibmaschinen. Der Blick auf das Chaos ist der Blick auf das kollektive Gedächtnis der Bremer Uni. Hier ist die blattgewordene 27jährige Geschichte der Bremer Universität eingesperrt – sie wurde achtlos hineingeworfen und niemals richtig aufgearbeitet.

Seit Jahren mahnt das Bremer Staatsarchiv bei der Bremer Uni ein Archiv an. Bislang ohne Erfolg, klagt Konrad Elmshäuser, der im Staatsarchiv für den Bereich Bildung, Wissenschaft und Kultur im Lande Bremen zuständig ist. „Das Thema wurde immer wieder vertagt“, sagt er. Für andere Städte sei ein Archiv ganz selbstverständlich, nur für die Bremer nicht. Unikanzler Gerd-Rüdiger Kück sagt dazu nur: „Das hat mit Stellenproblemen zu tun“und verweist auf fehlendes Geld. Doch das will Elmshäuser nicht glauben. Er hat bei der Bremer Uni ein „mentales Hemmnis“im Umgang mit der eigenen Geschichte ausgemacht.

Was er damit meint, betrifft die „Gründungsjahre“der Uni. Das „lästige Reformmodell“, mit dem die Bremer 1971 hoffnungsfroh an den Start ging, hätte für einen „schlechten Ruf“gesorgt. Da sind eben „Dinge geschehen, die man jetzt „am liebsten vergessen würde.“Tatsächlich beweist ein Blick in das Zimmer 1190: Nur mühsam erschließt sich hier die Geschichte einer Universität, die mit ihrem „Bremer Modell“als Antwort auf die Studentenbewegung der 60er Jahre gegründet worden war. Vorbild wollte sie sein – mehr kritisches Bewußtsein und Gleichberechtigung von Lehrenden und Lernenden wagen.

Sorgsam dokumentiert ist diese Entwicklung nicht: „Die Akten wurden hier nur zufällig und überhaupt nicht systematisch“einsortiert, gibt Eberhard Scholz von der Uni-Pressestelle zu. Und so steht der Ordner mit dem Titel „Reformruine“Bremen denn auch irgendwo versteckt in der Ecke zwischen gesammelten Papieren über „Berufungsverfahren“, „Studentenproteste“oder „Unirektoren“. Das Rauschen im deutschen Blätterwald ist dort dokumentiert – Presseberichte finden sich da, schief ausgeschnitten und auf welliges Papier geklebt.

So berichtet die Zeit im Jahr 1980 über „Deutschlands umstrittenste Hochschule“. In Bremen blieben Forschung und Lehre weiter „unter dem Standard einer normalen Universität“. „Bildungsschrott wird produziert.“Die Deutsche Forschungsgemeinschaft verweigere der Uni nach wie vor die Anerkennung einer „Forschungsstätte von allgemeiner Bedeutung.“Die Hälfte aller Professoren seien Marxisten.

Dabei hatte sich doch im Ordner „Uni allgemein“noch ein hoffnungsfrohes Infoblatt der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) von 1971 gefunden: „Rote Kaderschmiede oder Reformmodell – So ist es an den „alten deutschen Universitäten – Was ist bei uns anders?“, fragte dort die AfA.

Für Unimitarbeiter Scholz aus der Pressestelle waren das die „goldenen 70er Jahre“. Da mischte sich die ganze Uni samt Professoren und Studentenschaft noch ordentlich in alle Diskussionen ein. Da kämpften die Studis, wie ein Original-ASta-Info beweist, gegen die Erhöhung der Kaffeepreise. „Heute ist das doch alles anders“, meint Scholz. Und zuckt enttäuscht mit den Schultern, wenn er auf das Archiv angesprochen wird.

Gerade jetzt aber bräuchte die Bremer Uni dringend einen Archivar: Die Hochschule habe über 25 Jahre auf dem Buckel, da seien die meisten internen Akten „archivreif“, meint Staatsarchivar Elmshäuser. Außerdem stünde bei den Professoren eine Ruhestandswelle an. „Da sind natürlich auch viele Privatnachlässe dabei“, weiß er. Aber der Uni-Kanzler Kück vertröstet die Archivare: In „absehbarer Zeit“werde man sich des Themas Archiv sicher annehmen. Mental gehemmt sei man jedenfalls nicht: „Das wüßte ich nicht, daß das irgendetwas damit zu tun hat“, wehrt der Kanzler ab.

Die Uni blickt also weiter nach vorn: „Hier beginnt die Zukunft“steht auf einem Plakat, das sich in den Archivraum Zimmer 1190 verirrt hat. Dort präsentieren sich die heutigen Fachbereiche und das Studienangebot einer Uni, die ihrer turbulenten Gründungszeit nur eine chaotische Abstellkammer reserviert hat. Katja Ubben