Fünfzehn Jahre Stadtgeschichte von unten

■ Seit fünfzehn Jahren führt „StattReisen“ Besucher zu historischen und aktuellen Orten in Berlin. Neu im Sommer-Programm: „Endstation Neukölln?“ und „Bannmeile 2000“

„Ein Stadtrundgang muß ein sinnliches Erlebnis sein“, versichert Jörg Zimtgraf. Für „StattReisen Berlin e.V.“ organisiert und begleitet er Städtetouren. „Und wir wollen nicht mit großen Bussen durch enge Straßen fahren.“ Der Verein praktiziert nunmehr seit fünfzehn Jahren „sanften Städtetourismus“.

„Hallo Roter Wedding“, ein Rundgang durch den Arbeiterbezirk im Norden der Stadt, war die erste „StattReisen“- Tour. Vom Erfolg überrascht, gründete die „Weddinger Geschichtswerkstatt“ 1983 eine „Agentur für alternative Stadtführungen“.

Die bunte Truppe von Künstlern, Schauspielern, Studenten und Schriftstellern will seitdem Themen ansprechen, „die gern unter den Teppich gekehrt werden“, sagt Zimtgraf, der Mittelaltergeschichte studiert hat. „Wir haben am liebsten Leute mit vielfältigen Horizonten im Verein.“ Zur Zeit arbeiten dreißig Leute für „StattReisen“, die meisten davon nebenberuflich.

Wer die Führungen besucht, lernt vor Ort über geschichtliche Ereignisse, berühmte Literaten oder aktuelle Debatten. „Unser Rundgang ,Grenzgänge‘ führte 1988 an den damaligen Rand der Stadt, zur Berliner Mauer“, erzählt Zimtgraf.

Die Tour „Berlin, wie es wird“ habe den Potsdamer Platz 1990 dann als Mitte Berlins entdeckt. „Wichtig ist jedoch nicht, wo die Mitte Berlins ist, sondern was sie ist. Fragen uns die Leute, was Berlin denn ausmache, können wir nur mit ,Facettenreichtum‘ antworten.“

Im nächsten Sommer wird der Potsdamer Platz wiederum als „schnellster Platz Berlins“ vorgestellt. In den Zwanzigern hätte es dort viel Verkehr gegeben, heute würde dagegen schnell gebaut. „Wir wollen hinter die Fassaden und Mauern blicken“, erklärt Zimtgraf. „Wir schauen auf das Umfeld der Objekte und sehen uns die sozialen Strukturen der Stadt an.“

Zweimal habe der Verein vor „ernsthaften Krisen“ gestanden, erklärt Annette Birkholz. Auch sie ist eine der sechs festangestellten Alternativstadtführer. „Vor der Wende ließen wir Leute aus Ostdeutschland kostenlos teilnehmen. So stand das auch in unserem Programm.“ Am 11. November 89 seien dann dreihundert zu einer Führung durch Charlottenburg gekommen. „Das trieb uns fast in den Ruin.“

Die zweite Krise habe es 1994 gegeben. „Mit einem Schlag wurden uns alle ABM-Stellen gekürzt.“ Seitdem betont der Verein, daß er auch sehr gut ohne Subventionen auskomme.

Das Programm umfaßt nicht mehr nur Berlin-Rundgänge. Für Schulklassen organisiert Klaus Kowatsch die „StattSpiele“.

„Wir schicken die Jugendlichen auf die Suche nach alten Inschriften oder Mauerresten. Was sie finden, fotografieren sie, und am Ende erzählen sie dann darüber.“ Literarische Spiele gibt es für junge Erwachsene. „Sie suchen Orte, die Autoren vor dreihundert Jahren beschrieben haben.“

Seit 1992 bietet „StattReisen“ auch Studienreisen nach Osteuropa an. Jüdische Geschichte, Literatur und der frühere und gegenwärtige Alltag sind die Themen. Treffen mit einheimischen Journalisten und Historikern sollen Einblicke in dortige Lebenswelten geben.

Das neue Sommerprogramm enthält Stadttouren zu aktuellen Problemen. „Endstation Neukölln?“ reagiert auf das in der letzten Zeit entstandene Negativimage des Bezirks. „Dort gibt es nicht nur Kriminalität, kaputte Kleinbetriebe und Endzeitstimmung“, sagt Zimtgraf. „Wir zeigen unseren Gästen die Nebenstraßen, muslimische Gebetssäle und türkische Vereine.“

Die Tour „Bannmeile 2000“ führt über Baustellen. Sie will klären, ob die eigentliche Stadt irgendwann an den Rand des Regierungsviertels gedrängt wird und welche Barrieren die Bauzäune bald ersetzen werden. Christian Domnitz

Stattreisen Berlin, Malplaquetstr. 5 (Wedding), Tel. 4553028