Ein ganzes spanisches Dorf sitzt auf der Anklagebank

■ Dutzende Männer mißbrauchten jahrelang ein minderjähriges Mädchen. Die EinwohnerInnen wußten Bescheid, aber sie sagten nichts. Eine Frauenärztin deckte den Fall auf

Madrid (taz) – Das ganze Dorf hat es gewußt und weggeschaut. Ein heute 14jähriges Mädchen wurde in den letzten drei Jahren von unzähligen Männern ihres Heimatortes Santa Cruz de Zarza, unweit der spanischen Hauptstadt Madrid, regelmäßig sexuell mißbraucht. Die 4.800 Einwohner deckten die Täter, bis jetzt eine Frauenärztin den Fall aufdeckte. Sie erstattete Anzeige beim Jugendrichter im nahe gelegenen Ocaña. Gegen zwanzig Männer, zwischen 16 und 70 Jahre alt, die das Mädchen direkt beschuldigte, wird derzeit ermittelt. Doch die Polizei geht davon aus, daß dies erst der Anfang ist.

„Alle haben gewußt, was hier passierte“, erzählt eine Dorfbewohnerin. Doch niemand in dem Ort in der Hochebene La Mancha hatte daran Anstoß genommen, daß das Mädchen, das mittlerweile vom Richter in ein Heim in der Provinzhauptstadt Toledo eingewiesen wurde, vor drei Jahren die Schule verließ.

Das Mädchen sei geistig zurückgeblieben, behaupten manche. Zwar merke man ihr überhaupt nichts an, so die einhellige Meinung der Nachbarn, doch scheinen in der Schule alle froh gewesen zu sein, als sie die arbeitsintensive Schülerin, Tochter eines Hirten und einer Putzfrau, los waren. Das Mädchen habe sich fortan bis nachts um zwei, drei Uhr im Dorf herumgetrieben und „mit den Männern geflirtet“, berichten jetzt Dorfbewohner. Über hundert regelmäßige „Kunden“ soll das Mädchen aufgesucht haben, behaupten die Nachbarn.

Statt der Männer bekommt jetzt die Familie des Mädchen die sozialen Folgen des Verfahrens zu spüren. Seit ihre Tochter vor dem Richter ausgesagt hat, ist die Mutter arbeitslos. Keiner will mehr ihre Putzdienste in Anspruch nehmen. „Daran werden viele Ehen zerbrechen“, beschwert sich eine ältere Dorfbewohnerin gegenüber der Tageszeitung El Pais.

„Männer sind schließlich nicht aus Stein“, lautet eine der Entschuldigungen für die Täter, während die Leute im Dorf der Mutter die Schuld zuweisen. Sie habe ihrer Tochter, der zweitjüngsten von sechs Kindern, die Pille und Kondome besorgt und besuchte mit ihr regelmäßig die Frauenärztin, die jetzt den Skandal öffentlich machte. Ob die Mutter auch die 500 bis 1.000 Peseten (sechs bis zwölf Mark) eingestrichen hat, die das Mädchen von den Männern verlangte, wird das Gericht herausfinden müssen.

Während der Jugendrichter die Ermittlungen für geheim erklärt, versucht die Sozialbehörde der von der sozialistischen PSOE regierten Region Castilla la Mancha den Fall totzuschweigen. Es gehe um den „Schutz der Privatsphäre des Kindes“ heißt die Begründung. Die ebenfalls sozialistische Bürgermeisterin von Santa Cruz de Zarza, Amanda Carcia Carrillo, will von allem nichts bemerkt haben. Es gelte, Ruhe zu bewahren und abzuwarten, was die Richter entscheiden. „Man weiß ja, wie das in kleinen Dörfern so geht“, sagt die Ortsvorsteherin. „Viele bringen Gerüchte in Umlauf, ohne Genaueres zu wissen.“ Reiner Wandler