Mit oder ohne Jelzins Segen

Der vor einer Woche gefeuerte russische Ministerpräsident Tschernomyrdin kündigt seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 an  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Ich bin bereit die ganze Verantwortung für das Land auf mich zu nehmen.“ Mit diesen Worten erklärte am Samstag Rußlands entlassener Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin seinen Entschluß, im Jahre 2000 für das Präsidentenamt zu kandidieren. Während das Profil des von Boris Jelzin designierten Nachfolgers Sergej Kirijenko in den letzten Tagen vor der Öffentlichkeit zunehmend zu verschwimmen drohte, qualifizierte sich der Expremier mit diesem Auftritt als erfrischend autonome Persönlichkeit.

Als der Präsident und sein Expremier vor einer Woche vor die Kameras traten, um die Auflösung der bisherigen Regierung bekanntzugeben, verrieten ihre Minen: Sie taten es nicht als Freunde. Jelzin verkündete bei dieser Gelegenheit, er betraue seinen langjährigen Bundesgenossen mit der Aufgabe, die Präsidentschaftswahlen für das Jahr 2000 vorzubereiten. Er sagte aber nicht, für welchen Kandidaten. In der gegebenen Situation wirkte dies geradezu zynisch. War doch dem ganzen Lande klar, daß der gestandene Wirtschaftsmanager, der für den ersten Mann im Lande so manches Mal die Kohlen aus dem Feuer geholt hatte, längst selbst vom Präsidentenamt träumte. Andererseits zweifelt nach den jüngsten Handlungen Jelzins niemand daran, daß dieser an der Perspektive einer dritten Amtsperiode festhält.

„Auf die Frage, ob es mich gekränkt hat oder nicht, kann ich schlecht antworten. Denn wenn ich sagte, es hätte mich nicht gekränkt, würden alle folgern: Der trickst bloß.“ So schilderte Tschernomyrdin am Sonnabend seine Reaktion auf die überraschende eigene Entlassung. Und die Frage, ob denn der Schritt nun mit dem Präsidenten abgestimmt sei, beantwortete der erfahrene Sowjetmanager nicht ungeschickter als das Orakel von Delphi: „Ich habe Jelzin so verstanden, daß er mit einer solchen Position meinerseits einverstanden ist.“

Hat Jelzin also Tschernomyrdin fallengelassen, um zu testen, ob er ohne Rettungsringe schwimmen kann? Angesichts der wilden Experimentierfreude des russischen Präsidenten wollte kein Beobachter in Moskau diese Möglichkeit völlig ausschließen. Aber, so gab ein Kommentator der Fernsehgesellschaft NTV zu bedenken: „Wenn Tschernomyrdin im Jahr 2000 im Alleingang siegen will, dann muß er alle, die an der Macht verbleiben, ab heute aufs schärfste öffentlich kritisieren.“

Tschernomyrdins Mitbewerber für die Präsidentschaft zeigten sich von dem neuen Konkurrenten wenig beeindruckt. „Erst einmal soll er ,unser Haus‘ am Auseinanderfallen hindern“, kommentierte Kommunistenführer Gennadij Sjuganow unter Anspielung auf Tschernomyrdins Partei. Wladimir Schirinowski, Vorsitzender der rechtspatriotischen Liberaldemokratischen Partei Rußlands, äußerte sich zum Thema während einer seiner Popaktionen – er lief gerade vor dem Bolschoitheater Rollschuh – entsprechend unernst. „Prima“, rief er und wahrte mühsam die Balance: „Wenn er Luschkow [den Moskauer Bürgermeister] zum Ministerpräsidenten macht und mich zum stellvertretenden Premier, dann ist die Sache heute schon geritzt. Wir müssen uns nur noch verabreden.“