Stochern im Nebel des Völkermordes

Das Ruanda-Tribunal in Arusha versucht mit geringen Mitteln und unzureichender juristischer Handhabe, den Verantwortlichen für den Genozid den Prozeß zu machen. Die Schwierigkeiten sind größer als die Möglichkeiten  ■ Aus Arusha Peter Böhm

Da scheint einer wirklich Verständnisschwierigkeiten zu haben. Nachdem Jean Bosco Barayagwiza soeben die gegen ihn erhobenen Anklagepunkte vernommen hat, stößt er in acht Sätzen viermal ein äußerst ratlos scheinendes „Ich verstehe das nicht“ aus. Er verstehe die Begriffe „Hutu-Extremist“ und „Ideologie des Hutu-Extremismus“ nicht, und begreife auch nicht, wie das alles mit dem berüchtigten Radiosender „Radio Télévision Libre des Milles Collines“ (RTLM) sowie mit seiner Person zusammenhänge. „Wie soll ich mich zu einer Anklageschrift äußern, die ich nicht verstehe?“

Nachdem zuvor ein Antrag von Barayagwizas Anwalt gescheitert war, die Verhaftung des Gründers der extremistischen Hutu-Partei CDR im März 1996 in Kamerun als „rechtswidrig“ zu erklären, und dessen Beschwerde, die Anklage sei „nicht sauber“ formuliert, vom Gericht abgewiesen wurde, versteht Barayagwiza dann doch. Er plädiert in allen sechs Anklagepunkten „nicht schuldig“, wie im übrigen alle 22 der 24 in Arusha Inhaftierten, denen bisher ihre Anklage verlesen wurde.

Das Verfahren gegen Barayagwiza ist typisch für den Alltag des UN-Tribunals für Ruanda (ICTR) im nordtansanischen Arusha, weil es zwei erstaunliche Aspekte illustriert. Die Angeklagten, allesamt mutmaßliche Haupttäter des ruandischen Völkermords im Jahre 1994, sind weit davon entfernt, jegliche Hoffnung auf einen Freispruch aufgegeben zu haben, und die Anklageschriften sind ausgesprochen weitgehend. Der 48jährige Barayagwiza war einer der prominentesten Vertreter des ruandischen Hutu-Extremismus. Er war Gründungsmitglied und einer der Chefideologen der Extremistenpartei CDR und deren Präsident in der Präfektur Gisenyi im Nordwesten Ruandas. Außerdem war Barayagwiza einer der Gründer sowie später Mitglied im Verwaltungsrat des Radiosenders „Milles Collines“, der seine Reden regelmäßig ausstrahlte. Zur Zeit des Abschusses eines Flugzeuges mit dem ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimanas an Bord am 6.April 1994 leitete er zudem die politische Abteilung des Außenministeriums.

Die Anklage wirft ihm unter anderem Völkermord vor, weil er Versammlungen in Gisenyi geleitet haben soll, auf denen Massaker geplant sowie Waffen und Geld an die Mörder verteilt und konkrete Tötungen befohlen wurden. Wegen seiner Rolle bei „Milles Collines“ ist er außerdem wegen Beihilfe, direkter und öffentlicher Anstiftung sowie Verschwörung zur Ausführung des Genozides angeklagt, weil er, wie es in der Anklageschrift heißt, „zusammen mit anderen RTLM gegründet hat, um die Ziele der Hutu-Extremisten zu fördern. Ihre Ziele schlossen in diesem Zeitraum das Töten der Tutsi-Bevölkerung ein.“

Ähnlich lautet die Anklage gegen Hassan Ngeze, Chefredakteur des ebenfalls für Anti-Tutsi-Ergüsse bekannten Magazins Kangura. Ngeze war außerordentlich gut plaziert in ruandischen Hardlinerkreisen. In einem Artikel einen Monat vor dem Beginn des Völkermords sagte seine Zeitschrift den Tod Habyarimanas in verblüffend treffenden Umständen voraus. Auch ihm wird öffentliche Anstiftung zum Völkermord vorgeworfen, weil, wie es in der Begründung heißt, die Artikel in Kangura „zur Vorbereitung des Völkermordes an Tutsis benutzt wurden“. Zwar ist die maßgebliche Rolle der ruandischen Hetzmedien zur Ausführung des Völkermordes ebenso unumstritten wie die Tatsache, daß auf konkrete Sendungen von „Milles Collines“ Massaker folgten – aber ob die Anklage auch beweisen können wird, daß sie an der Planung und Durchführung des Völkermords aktiv beteiligt waren, steht auf einem anderen Blatt. Inwieweit die Staatsanwaltschaft Dokumente und Akten über die Entscheidungsstrukturen hat, ist noch eine große Unbekannte. In den drei Verfahren, die zur Beweisaufnahme fortgeschritten sind, hat sie sich bisher hauptsächlich auf Augenzeugen und Überlebende der Massaker gestützt.

Eine Besonderheit der Anklageschriften ist, daß die Rechtfertigung „Aber ich habe doch nur einen Befehl befolgt“ von vornherein ausgeschlossen ist. Das Statut, vom UN-Sicherheitsrat bei der Gründung des Tribunals im November 1994 beschlossen, sagt ausdrücklich, daß sowohl ein Vorgesetzter, wenn er von Verbrechen eines Untergebenen wußte, und diese nicht verhinderte oder danach strafrechtlich verfolgte, als auch derjenige, der auf Befehl eines Übergeordneten handelte, sich strafbar gemacht haben. Letzteres kann sich allerdings strafmildernd auswirken.

Diese individuelle Verantwortlichkeit und die Tatsache, daß das UN-Tribunal im Gegensatz zu den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg und Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich am nationalen Recht der Siegermächte orientierten, von der UNO eingerichtet wurde und „nach den höchsten internationalen Standards der Menschenrechte“ vorgehe, mache seine „historische Bedeutung“ aus, meint deshalb Kingsley Moghalu, Berater des Verwaltungschefs des Gerichts. In der Praxis wurde jedoch der Anklagepunkt „Verschwörung“ ebenso wie das Kreuzverhör aus der angelsächsischen Prozeßführung übernommen, worin ein maßgeblicher Einfluß der USA deutlich wird.

Dem Tribunal wird oft das schleppende Tempo der Verfahren zum Vorwurf gemacht. Im Dezember 1996 kam eine vom UN- Generalsekretär in Auftrag gegebenen Untersuchung zu einem vernichtenden Urteil. Kofi Annan feuerte daraufhin den größten Teil der Verwaltungsriege. Der neue Administrationschef Ukiwe Ukali gibt nun die Kritik zurück: In einer Pressekonferenz anläßlich der Aussage des ehemaligen UNO- Kommandanten Romeo Dallaire sagte er, daß das Tribunal schon im November den Antrag auf Ernennung einer dritten Richterkammer sowie zur Einrichtung eines dritten Gerichtsaals gestellt habe. Nun sei es am UN-Sicherheitsrat, eine Entscheidung zu treffen.

Mitte März folgte die nächste Hiobsbotschaft: Die Staatsanwaltschaft beantragte, den Beginn des Verfahrens gegen den hohen Armeeoffizier Théoneste Bagosora, von vielen als die treibende Kraft hinter dem Völkermord angesehen, zu verschieben. Der Grund: Sie sehe sich nicht in der Lage, ein neues Verfahren zu eröffnen, solange die drei laufenden nicht abgeschlossen seien. Eine Woche später beantragte sie, die Verfahren gegen Bagosora und andere hochrangiger Offiziere zusammenzulegen, um zu zeigen, daß der Völkermord zentral geplant wurde. Die dreiköpfige Richterkammer hat diese Anträge scharf kritisiert, weil sie viel zu spät gekommen seien.

Von Kritikern wird dem Tribunal ein willkürliches Vorgehen vorgeworfen, gegen wen Anklage erhoben wird und gegen wen nicht. Berater Kingsley Moghalu kann dazu nichts anderes sagen, als daß man sich auf die „großen Fische“ beschränke. Dieses Kriterium ist jedoch schwammig. Doch diejenigen, die in Arusha angeklagt sind, können froh sein. Denn im Vergleich zu Gefängnissen in Ruanda sind sie unter luxuriösen Bedingungen inhaftiert, ihre Prozessen genügen rechtsstaatlichen Standards, und im Höchstfall erwartet sie lebenslange Haft. Die ruandische Regierung hat im Dezember 1996 hingegen eine Liste mit knapp 1.500 Personen veröffentlicht, die der Strang erwartet, wenn sie in Ruanda für schuldig befunden werden.

Besonderen Wert legt das Tribunal auf den Zeugenschutz. Die Zuschauer sind durch eine dicke Glasscheibe vom Verhandlungsraum getrennt. Die Zeugen werden, wenn sie Anonymität beantragt haben, auf geheimgehaltenen Reiserouten nach Arusha gebracht, dort unter einer Chiffre geführt und sitzen in einer von den Zuschauern nicht einzusehenden Box oder hinter einem Paravent. Wenn Fotos als Beweisstücke gezeigt werden, auf denen sie zu sehen sind, wird der Gerichtssaal durch einen Vorhang verschlossen.

Aber die Angeklagten, vor denen die Zeugen eigentlich am meisten geschützt werden müßten, können sie sehen. Durch ihre Anwälte können die Angeklagten Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen. Wenn man bedenkt, daß es um Personen wie Oberst Gratien Kabiligi geht, der noch Mitte 1997 die Reste der alten ruandischen Armee und der Interahamwe-Milizen in Zaire befehligt haben soll, kann man das nur als Mangel werten.

Die zunehmenden Angriffe von Hutu-Milizen auf Zivilisten im Nordwesten Ruandas sind nicht ohne Einfluß auf das Tribunal geblieben. Drei Belastungszeugen im Verfahren gegen Jean-Paul Akayesu, Exbürgermeister der Gemeinde Taba, haben sich bisher geweigert, in Arusha auszusagen – ein schmerzlicher Rückschlag, weil unter ihnen der Exvorgesetzte von Akayesu ist – der damalige Präfekt von Gitarama, Fidèle Uwizeye, der heute eine hohe Funktion im Innenministerium einnimmt. Vertreter der Verteidigung argumentieren deshalb, daß so kein rechtsstaatliches Verfahren möglich sei.

„Die UNO selbst stuft in einer Reiseempfehlung für ihre Mitarbeiter die Regionen im Westen und Norden Ruandas als Gefahrenzonen ein, und selbst die Anklagevertreter trauen sich nur mit dem Schutz einer Militärpatrouille dorthin“, sagt Charles Roach, Ermittler der Verteidigung im Fall Charles Rutaganda, ein Vizepräsident der Interahamwe-Miliz. „Wenn Sie sich dann vorstellen, daß in einer Gesellschaft wie im ländlichen Ruanda, in der jeder jeden kennt, herauskommt, daß sie für die Verteidigung eines mutmaßlichen Völkermörders arbeiten, dann können Sie sich vorstellen, daß keiner dorthin fahren möchte. Außerdem würde man das Leben derjenigen, die man als potentiellen Belastungszeugen anspricht, in Gefahr setzen.“

Ob die Verfahren ein befriedigendes Ende finden werden, ist alles andere als sicher. Seit der bekannte ruandische Menschenrechtler Joseph Matata, der angab, daß er Anfang 1994 selbst Ermittlungen in Akayesus Gemeinde unternommen habe, den Angeklagten in seiner Zeugenaussage in Schutz nahm und von „Denunziationsseilschaften“ sprach, wurde der Anklage gegen Akayesu ein schwerer Schlag versetzt.

In den Prozessen treffen zwei Denkweisen aufeinander: Die Zeugen, die sich aufs Hörensagen beziehen und Aussagen machen wie: „Jeder weiß doch, daß der schuld ist.“ Und die juristische Auffassung, wonach die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei feststehen muß. So kann es vorkommen, daß ein Ermittler der Anklage im Prozeß gegen den ehemaligen Präfekten von Kibuye, Clément Kayishema, zwei volle Tage lang Fotos vorführt, die er auf Anleitung von Zeugen von den Tatorten machte. Und daß dann der Richter fragt: „Sie haben also nicht den Wahrheitsgehalt der Zeugenaussagen überprüft?“