■ Rußland: Jelzin kündigt an, auf eine Kandidatur 2000 zu verzichten
: Pathologische Züge

Eindeutige Aussagen und Erklärungen aus dem Kreml zu erwarten ist dieser Tage ein noch aussichtsloseres Unterfangen als schon zu Zeiten relativ geregelter Ordnungsabläufe. Wieder einmal gab Rußlands Präsident Jelzin zu Protokoll, er gedenke für eine dritte Amtsperiode nicht mehr zu kandidieren. Die Launen des Kreml-Chefs werden sich bis zum Sommer 2000 jedoch noch mehr als einmal ändern – vorausgesetzt, seine angeschlagene Gesundheit macht ihm keinen Strich durch die Rechnung. In diesem Fall könnten Rußlands Wähler womöglich noch früher an die Urnen gerufen werden. Seinen gestrigen Verzicht packte der Präsident denn auch in einen Nebensatz, eine grammatikalisch abhängige und somit untergeordnete Funktion...

Die Ankündigung des letzte Woche geschaßten Premierministers Wiktor Tschernomyrdin, er werde 2000 bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren und sich darauf gezielt vorbereiten, hat den Kreml offenkundig überrascht. Der gedemütigte Premier schlug schneller zurück als erwartet. Und der Kreml brauchte zwei Tage, bis er eine Formulierung gedrechselt hatte, die jegliche konkrete oder strategische Absicht Boris Jelzins – wie er gedenkt, seine Nachfolge im Interesse einer unspektakulären Machtübergabe zu regeln – vernebelt. Der Präsident vermied es sogar, seinen Ex-Premier beim Namen zu nennen. Offenkundig ist Tschernomyrdin nun endgültig in Ungnade gefallen. Erklärungen der letzten Woche, den Premier von der Bürde seines Amtes zu befreien, damit er sich auf die Wahlen 2000 konzentrieren könne, scheinen reiner Bluff gewesen zu sein. Ohnehin hinkte dieses Argument von vornherein. Einmal aus der ersten Reihe ins hintere Glied verwiesen, schafft in Rußland kaum jemand den Sprung zurück. Man denke nur an den Shooting-Star der letzten Präsidentschaftswahlen, Alexander Lebed.

Doch damit nicht genug. Unmißverständlich gab Jelzin gestern zu verstehen, nicht Tschernomyrdin hätte die Entscheidung getroffen zu kandidieren – vielmehr habe er durch seine Entlassung der Regierung den Weg dahin geebnet. Hier ist jemand bemüht, sich mit aller Macht und einer krummen Logik zum Weltenbeherrscher zu stilisieren. Pathologische Züge offenbaren sich, die der Zunft der Gerontologen auf weiteres eine Menge Gehör verschaffen werden. Für Rußland eine bedrohliche Perspektive. Klaus-Helge Donath