Offener Brief

■ an Ludger Volmer, MdB, Bünd nis 90/ Grüne zum Magdeburger Parteitagsbeschluß und nachfol gende Äußerungen

Lieber Ludger, seit unserer gemeinsamen grünen Zeit schätze ich Dich nach wie vor als einen äußerst kompetenten Politiker auf dem Gebiet „internationale Solidarität“, und die Debatte um Benzinpreis und Kerosinbesteuerung betrifft zuallererst die Frage unserer Solidarität mit den Menschen im Trikont. Deshalb war ich um so erstaunter über Deine Reaktion auf Halo Seibolds Vorstoß, dessen Zeitpunkt vielleicht unklug gewählt war. Es weiß aber jeder, der nur einigermaßen mit der Problematik vertraut ist, daß sie schlicht recht hat, und wenn wir ernsthaft für die nötigen Veränderungen eintreten, dann kommen wir überhaupt nicht darum herum, das öffentlich auszusprechen und dafür zu werben. Was wäre denn die Alternative?

Mich irritiert es immer wieder, daß sich gerade die Inter-Soli- Szene so schwer tut mit den notwendigen ökologischen Weichenstellungen bei uns. Die dringlichste soziale Frage weltweit gesehen ist die ökologische. Das Fraunhofer Institut hat in einer Studie von 1992 für den Fall, daß im Hinblick auf die Erderwärmung nicht die notwendigen Gegenmaßnahmen ergriffen werden, bis zum Jahr 2030 unter anderem 900 Millionen bis 1,8 Milliarden zusätzlicher Hungertoter (aufgrund der Verschiebung der Vegetationszonen) prognostiziert – eine absolute, nicht verteilungsbedingte Hungerkatastrophe von bisher nie gekanntem und schier unvorstellbarem Ausmaß. Um diese Menschen geht es also, wenn wir für den ökologischen Strukturwandel kämpfen. Und wer das verdrängt, der sollte tunlichst das Wort „internationale Solidarität“ nicht mehr in den Mund nehmen.

Wir sind schon mittendrin in der Klimakatastrophe, nur gehören wir – noch – zu jenen, die die unmittelbaren Auswirkungen nicht spüren. Im Gegensatz zu anderen. Seit Mitte der siebziger Jahre ist die Niederschlagsmenge in der Sahelzone um 40 Prozent zurückgegangen, was höchstwahrscheinlich mit der Erderwärmung zusammenhängt. Nach Auskunft der Münchener Rückversicherung hat sich die Zahl der wahrscheinlich klimabedingten Naturkatastrophen seit Mitte der sechziger Jahre verfünffacht. [...]

Die Studie „Sustainabel Netherlands“, in Ansatz und Methode unserer Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ vergleichbar, hat ausgehend vom Konzept des Umweltraumes, das auch den Gerechtigkeitsgedanken von vornherein in die Methode aufnimmt, für wichtige Bereiche ein zukunftsfähiges Maß auch individuell aufgezeigt. Bezogen auf den Flugverkehr lautet das: alle 25 Jahre ein Fernflug wäre ein Richtmaß für das individuelle Verhalten. Halo Saibolds Vorschlag war daran gemessen äußerst moderat, und ich finde es einfach beschämend, in welch flegelhafter Weise sie jetzt beschimpft und an den Pranger gestellt wird. [...]

Angesichts der Reaktion auf Halo Saibolds Statement stellt sich doch die Frage: Wie ernst nehmt Ihr Euch eigentlich selber noch?

[...] Wir wissen alle, daß das selbstgesetzte Klimaziel der Bundesregierung nicht nur von derselben gar nicht ernsthaft angestrebt wird, sondern auch in sich schon hinter dem Notwendigen zurückbleibt. Ich erinnere an die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“. Reinhard Loske, der die Studie koordiniert hat und der ja für Euch auch kandidiert, hat selbst gesagt, daß die darin beschriebenen Ziele das absolut notwendige Minimum seien. Reduktion des CO2-Ausstoßes in der Bundesrepublik um 35 Prozent bis zum Jahr 2010, um 50–60 Prozent bis zum Jahr 2020, um 90 Prozent bis zum Jahr 2050. Wir wissen auch, daß dabei der Verkehr der neuralgische Punkt ist, daß wir nicht nur eine Reduktion des spezifischen Verbrauchs erreichen müssen („Drei-Liter- Auto“), sondern – laut Studie Zukunftsfähiges Deutschland – bis zum Jahr 2010 eine Halbierung des motorisierten Individualverkehrs.

Wenn es – laut Reinhard Loske – um ein unbedingt notwendiges Minimum geht, dann machen auch halbherzige Kompromisse keinen Sinn, denn dann kann man's auch gleich sein lassen. [...]

Ihr habt als Grüne nun eine schwierige Diskussion gegen die Stammtischparolen der „zwei von der Tankstelle“, Herrn Pfarrer Hintze und Herrn Schröder, zu führen. Es wird vor allem an der Öko- und Inter-Soli-Bewegung liegen, dafür zu sorgen, daß Euch hier der Rücken gestärkt wird. Als katholischer Theologe sage ich das natürlich auch im Hinblick auf die Kirchen mit ihren schönen Bekenntnistexten, die, wenn es darauf ankommt, so wenig verbindlich sind. Ich sage das aber nicht zuletzt im Hinblick auf meine eigene Partei. Der Kreisverband der Mainzer PDS hat für den kommenden Parteitag vom 3.–5. April einen Antrag vorgelegt, der im wesentlichen Eurem Magdeburger Beschluß entspricht.

Bei der schwierigen Überzeugungsarbeit, die Euch jetzt bevorsteht, sei Euch doch eines gesagt: Grüne, die zu den Magdeburger Beschlüssen stehen und auf sieben Prozent absacken, bringen uns gesellschaftlich wesentlich weiter als Grüne, die bei zehn Prozent landen und dafür inhaltlich für nichts mehr einstehen. Bruno Kern,

Direktkandidat der PDS Mainz-

Bingen für den Bundestag