■ Dokumentation
: Im Iran ist die Zeit der ausdrucksvollen Stille vorbei

Das folgende Grußwort Faradsch Sarkuhis wurde gestern in Stockholm auf einer Konferenz unter dem Titel „Keine Freiheit ... Keine Kultur“ verlesen. Der iranische Schriftsteller und Regimekritiker konnte nicht selber nach Schweden kommen, weil ihm die Behörden in Teheran noch immer einen Reispaß verweigern.

Liebe Kollegen,

ich möchte die Gelegenheit nutzen, der World Association of Newspapers meinen aufrichtigen Dank für die Einladung auszusprechen. Ich möchte auch Herrn Wei Jingsheng zur Verleihung des ehrenvollen Olof-Palme- Preises gratulieren. Trotz meines tiefen persönlichen Wunsches, an dieser Konferenz teilzunehmen, fand ich keine Möglichkeit, dies zu tun.

(...) Als iranischer Redakteur habe ich gelernt, zwischen den Zeilen zu schreiben, für jene, die gelernt haben, dies zu lesen. Ich habe gelernt, auf nicht verbotene Weise wichtige Ereignisse zu vermitteln, Meinungen zu reflektieren und die nicht erzählten Aspekte meiner Gesellschaft zu enthüllen. Ich habe gelernt, vorsichtig über das Verschwinden von intellektuellen Dissidenten, Schriftstellern und Poeten in Nebenstraßen und Sackgassen zu schreiben. Ich kenne die roten Linien, die zu überschreiten brutale Bestrafung zur Folge hat. Ich habe gelernt, daß eindeutig zu schreiben oder zu sprechen unausweichlich zu Inhaftierung, Folter, erzwungenen Geständnissen, widerlichen falschen Anschuldigungen und sogar zum Tod führen. (...)

Ich kenne die Restriktionen der Zensur genau. Die Aktivitäten zahlreicher Pressure-groups, offizielle und nichtoffizielle, sind mir vertraut. Sie schaffen eine Atmosphäre der Angst, Terror und Mord, erzwingen bei Journalisten und Schriftstellern eine Art Selbstzensur. In jedem von uns existieren zwei gegensätzliche Charaktere: der eine schreibt, der andere streicht aus; der eine versucht, Nachrichten, Informationen und Ideen offen und direkt zu präsentieren, der andere verdreht die geradlinigen Ausdrücke in eine figurative, doppeldeutige, allegorische und metaphorische Sprache. Zu kommunizieren bedeutet für uns, zwischen den Zeilen zu lesen und zu schreiben. Wir haben gelernt, Texte aus unterschiedlichen Betrachtungswinkeln zu lesen und zu beurteilen, auch aus dem Blickwinkel jener, die das Schwert der Macht in den Händen halten und rücksichtslos zuschlagen. Wir verdanken viel unserer alten Weisheit der ausdrucksvollen Stille, deren Geschichte so alt ist wie die des orientalischen Despotismus.

Trotz rücksichtsloser Tyrannen, die Menschen ihre Zungen herausreißen, ihnen ihre Lippen vernähen, ihnen ihre Stifte zerbrechen und alle Stimmen außer ihrer eigenen zum Verstummen bringen, hat es unsere Bevölkerung geschafft, sich symbolisch, allegorisch und metaphorisch auszudrücken, indem sie poetische Obskurität und Zweideutigkeit benutzten, die unterschiedliche Interpretationen zulassen.

(...) Einige hundert Jahre hat unser Volk an die Tür der Modernität geklopft, aber Tyrannen haben den Zugang versperrt. Die Tyrannen hören nur ihre eigene Stimme. Sie wollen die Menschen als passive Zuhörer und haben Angst vor einem kreativen Dialog. Sie wollen, daß die Medien taub und blind sind, und gestatten keine freien Aktivitäten von unabhängigen Organisationen, Schriftstellern und Journalisten.

(...) Das ist der Grund, daß wir unterentwickelt und an den Rand gedrängt bleiben. Aber die Dinge werden sich verändern. (...) Unter den gegenwärtigen Bedingungen wirkt die alte stille, ausdrucksvolle Weisheit nicht mehr, genau wie der orientalische Despotismus. Wir brauchen eine Atmosphäre, in der alle Ideen und Gedanken in einen direkten und klaren Dialog treten können. Wir brauchen eine Atmosphäre, in der alle Gedanken und Ideen zu einem direkten und klaren Dialog geformt werden, anstatt der alten Tradition des Lesens zwischen den Zeilen. (...)

Angesicht des Themas der Konferenz, die Redefreiheit, wollte ich das Risiko eingehen und meine Erklärung direkt und geradeheraus abgeben. Aber unter den herrschenden Bedingungen kann man die alte traditionelle Weisheit der ausdrucksvollen Stille nicht aufgeben. Daher bitte ich Sie, zwischen den Zeilen zu lesen, so wie meine Landsleute es tun. (...)

Faradsch Sarkuhi,

Teheran, Iran