Eine Frage der Ehre für Helmut Kohl

■ Wie der Kanzler der Einheit in einem kleinen Städtchen fern von Deutschland für Unruhe sorgt

Die Abendsonne stand schon tief über den Gäßchen der alten Universitätsstadt Cambridge, als vorgestern eine Gestalt den Platz vor dem imposanten Säulentempel überquert, in welchem die Uni Festakte zu zelebrieren pflegt. Mit einem Blatt Papier in der Hand eilt der Bote auf den amtlichen Schaukasten am schwarzen, schmiedeeisernen Gatter zu. Noch kennt niemand außer einigen Eingeweihten im Uni-Rektorat den Inhalt der wenigen dürren Zeilen auf dem Zettel. Nichts an der idyllischen Szene verrät, daß der Aushang womöglich dem deutschen Bundeskanzler im fernen Bonn einen häßlichen Patzer in seiner Wahlkampfplanung bescheren könnte.

Dabei hatte zu Beginn des Jahres noch alles blendend ausgesehen für Helmut Kohl. Die Universität Cambridge beschloß, dem Kanzler der Einheit die Ehrendoktorwürde zu verleihen. Sicher, es war beileibe nicht Kohls erster Doktor honoris causa, doch die geplante Verleihung am 24. Juni würde sich aufs glücklichste in einen Wahlkampf fügen, in welchem Kohls einziger Vorsprung vor dem Herausforderer Gerhard Schröder sein Renommee als international geachteter Staatsmann ist.

Die Verleihung war bereits im Uni-Amtsblatt angekündigt, wenn auch noch nicht in Kraft getreten, da legten elf meist junge Dozenten Widerspruch ein – ein Vorgang, wie es ihn in der fünfhundert Jahre langen Geschichte der Uni nur einmal, beim Philosophen Jacques Derrida, gegeben hatte. Während bei Derrida intellektuelle Kritik am Poststrukturalismus den Einspruch auslöste, war diesmal die Politik Anlaß der Proteste. „Weniger als hundert Tage vor der Bundestagswahl“ erfolge die Ehrung für Kohl, kritisieren die Dozenten in ihrer Stellungnahme. Geschickt appellieren sie an zwei britische Generaltugenden, Fairness und Zurückhaltung: Einen amtierenden Politiker während des Wahlkampfes zu würdigen, „könnte als aktive Einmischung in den deutschen Wahlvorgang aufgefaßt werden und als politische Empfehlung erscheinen“. Ganz wichtig sei den Kritikern, so der Mitinitiator Dani Tawfik, nicht mit der britischen Europafeindlichkeit in Verbindung gebracht zu werden. Ihnen gehe es nur um die Universität. „Wir dürfen nicht in Parteipolitik hineingezogen werden.“

Den Uni-Regularien folgend wurde die Ehrung ausgesetzt, und alle 3.300 Professoren und Mitarbeiter durften schriftlich abstimmen – für oder gegen Kohls Doktorhut. Auch die Befürworter appellierten an zwei britische Tugenden, Höflichkeit und Pragmatismus. Unter Anspielung auf die saftigen Einnahmen aus Studiengebühren betonen sie, daß die Deutschen nach den Amerikanern das größte Kontingent ausländischer Studenten in Cambridge stellten. „Diese wertvollen Verbindungen durch einen Akt der Unhöflichkeit zu gefährden, liegt sicherlich nicht in der Absicht unserer Kollegen“, heißt es gedrechselt in ihrer Stellungnahme. Am Montag abend dann, bei der Bekanntgabe des Ergebnisses, zeigte sich, wie sehr die Uni-Verwaltung fürchtete, bereits die Abstimmung selbst könnte als Brüskierung Kohls aufgefaßt werden. Der Zettel am schmiedeisernen Gatter von Senate House verkündet zur Frage der Ehrung: „1.089 Stimmen dafür, 321 dagegen.“ Den Namen des Mannes, der nun doch einen Ehrendoktor erhält, verschweigt der Aushang. Patrik Schwarz