„Ziel ist, daß es eine Verurteilung gibt“

■ Gérard Boulanger ist einer von 22 Anwälten der Zivilkläger im Papon-Prozeß. Er hat seit den 80er Jahren am Zustandekommen des Prozesses gearbeitet und zwei Bücher über Papon veröffentlicht

taz: Je länger der Papon-Prozeß gedauert hat, desto stärker sind die Opfer der Deportationen in den Hintergrund getreten. Und desto mehr ist von dem persönlichen Schicksal des Angeklagen die Rede. Woran liegt das?

Gérard Boulanger: Wir haben seit drei Monaten ein Problem mit der französischen Presse. Sie findet diesen Prozeß zu lang. Die Medien haben uns zunächst ganz enorm dabei geholfen, daß dieser Prozeß zustandekommt. Dabei ist sie auf eine gewisse Art an die Stelle der Justiz getreten. Danach hat sie dann nicht verstanden, daß die Justiz so lange brauchte, einen Prozeß zu machen, den sie selbst bereits geführt hatte. Sie hat entweder die Prozeßlänge kritisiert oder sich anderen Themen zugewandt. Ich finde, daß der pädagogische Wert des Prozesses dadurch gestört wurde.

Worin liegt dessen Bedeutung?

Seine erste Tugend ist, daß die Opfer sich frei ausdrücken konnten. Das konnte eine doppelte historische Ungerechtigkeit ausgleichen. Sie waren einerseits Opfer der Deportation ihrer Familienangehörigen und andererseits der Gleichgültigkeit, die sie anschließend umgeben hat. Für die 27 Personen, die ich vertrete, kann ich sagen, daß dieses Rederecht befreiend war. Zweitens hat der Prozeß Frankreich erlaubt, die Taten seiner Verwaltung während des Krieges zu betrachten. Und drittens hat er gezeigt, daß dieselben hohen Funktionäre, die während des Krieges an Verbrechen gegen die Menschlichkeit teilnahmen, anschließend an Kriegsverbrechen während der Dekolonisierungskriege beteiligt waren. Das gilt für den 17. Oktober 1961 (als Papon Pariser Polizeipräfekt war und die Polizei während einer Demonstration für die algerische Unabhängigkeit Hunderte von Menschen umbrachte, d. Red.).

Es war viel von „Pädagogik“ die Rede. Was haben die Franzosen tatsächlich dazugelernt?

Sie haben klar gesehen, wie unerschütterlich und unterwürfig hohe Beamte von Vichy gearbeitet haben. Es geht um Büroverbrechen. Um Mörder mit Schreibgeräten. Ihre Waffen sind Listen von Personen, die in einer Stadt leben. Sie töten, indem sie diese Listen den Nazis, der SS, geben. Ich würde nicht sagen, daß sie einen besonderen Eifer an den Tag legten. Es war eine kalte Art. Wenn sie gelegentlich schneller waren, wenn sie die Befehle der Nazis vorwegnahmen, dann lag das nur daran, daß sie eben gut organisierte Beamte waren, nicht, daß sie Antisemiten waren, die den Nazis gefallen wollten. Sie wußten, daß man besser ist, wenn man sich gut organisiert und vorbereitet. Sie befanden sich in einem System von Staatskollaboration, und sie wußten genau, daß Vichy permanent vor den Wünschen der Nazis kapitulierte. Das waren Beamte, die gut funktionierten. Das ist das schreckliche.

Halten Sie einen Freispruch, wie ihn die Verteidigung beantragt hat, oder eine relativ kurze Freiheitsstrafe, wie es der Staatsanwalt will, für möglich?

Ein Freispruch ist objektiv nicht möglich. Die Zivilkläger und die Staatsanwaltschaft haben deutlich gezeigt, wie sehr die ständige Übergabe von Listen an die SS eine Komplizenschaft mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit war. Im Fall von Librac zum Beispiel (dessen Transfers in das Durchgangslager Merignac bei Bordeaux Papon zu Anfang seiner bordelaiser Amtszeit unterzeichnet hat, d. Red.) hat Papon das implizit selbst eingestanden. Er sagte: „Das ist mein Fluch.“ Ziel ist, daß es eine Verurteilung gibt. Das Strafmaß selbst ist Sache der Geschworenen und nicht der Anwälte. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Strafhöhe zu beurteilen.

Halten Sie es für Zufall, daß fast gleichzeitig mit dem Ende des einzigen Prozesses gegen einen hohen Beamten von Vichy eine neuerliche Annäherung eines Teils der französischen Rechten an die Rechtsextremen stattfindet?

Das war nicht gewollt, ist aber voller Sinn. Es ist dieselbe Niedertracht wie 1938 beim Münchner Abkommen. Ich glaube, daß die Leute an der Macht das immer wieder machen werden. Aber die wollen wir gar nicht zum Nachdenken bringen. Sondern die, die Gefahr laufen, Opfer zu werden. Ich glaube, das Ziel ist erreicht. Es gibt viele, die nachgedacht haben. Und die daraus Lehren ziehen.

Gérard Boulanger: „Maurice Papon, un technocrate français dans la collaboration“, Paris 1994; „Papon, un intrus dans la République“, Paris 1997