Und er erfüllte nur seine Pflicht

Heute soll das Schwurgericht von Bordeaux sein Urteil über Maurice Papon fällen. Dem einzigen angeklagten Spitzenbeamten des Vichy-Regimes wurde in den letzten Wochen viel Mitleid zuteil.  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Mit einer schwarzen Krawatte ist Maurice Papon in die Angeklagtenbox in Bordeaux zurückgekehrt. Er wirkt noch zerbrechlicher als zuvor, die Augen versteckt hinter dunklen Brillengläsern. „Er hat jetzt niemanden mehr, dem er seinen lang erwarteten Freispruch mitteilen kann“, sagt sein Verteidiger Jean-Marc Baraut.

Seit die Gattin des 87jährigen Angeklagten Mitte der vergangenen Woche starb, reißen die mitleidheischenden Erklärungen seiner Anwälte und die menschelnden Berichte in den französischen Medien nicht mehr ab. Sie zeigen einen alten Mann, der sich seit beinahe sechs Monaten in dem längsten Prozeß der französischen Geschichte wegen Verbrechen verantworten muß, für die er sich nicht zuständig fühlt. Von den Deportationen der 1.650 Juden aus Bordeaux – darunter Frauen, Kinder und alte Leute – von dem Judenregister und von den Razzien, allesamt Ereignisse, die Papon als Generalsekretär der Präfektur der Gironde zwischen 1942 und 1944 organisierte, ist kaum noch die Rede.

In diesem Klima von Desinteresse an dem eigentlichen Prozeßthema soll heute abend das Urteil fallen. Nachdem der Angeklagte selbst gesprochen hat, werden sich die neun Geschworenen und drei Berufsrichter zurückziehen, um zu klären, ob er der Komplizenschaft bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig ist. Eine Liste von 800 Fragen soll sie bei ihrer Urteilsfindung leiten. Es wird das erste – und zugleich das letzte – Urteil wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit über einen französischen Spitzenbeamten aus dem Vichy-Regime sein. Alle anderen potentiellen Angeklagten sind tot. Strafen zwischen lebenslänglich (mehrere Anwälte der Zivilkläger) und 20 Jahren (die Staatsanwaltschaft) sind für Papon beantragt. Die Verteidigung plädiert auf Freispruch. Sie hält ihn für unschuldig.

In einem nicht enden wollenden Plädoyer, das gestern in den dritten Tag ging, reduzierte Verteidiger Varaut die Rolle von Papon in der Präfektur der Gironde auf die eines „Informanten und Beobachters“. In den Tagen zuvor hatte sich der 65jährige Anwalt bereits bemüht, zu erklären, daß erstens Papon „nur seine Pflicht“ erfüllt habe und daß es zweitens keinen „konzertierten Plan“ der Judenvernichtung zwischen den Nazis und dem Regime von Vichy gegeben habe. Nach dieser Logik wären sowohl Papon als auch das Regime von Vichy, das zwei „Judenstatute“ in die Welt gesetzt und dessen Beamte über 70.000 Juden in teils sogar den Nazis vorauseilendem Gehorsam aus Frankreich in die deutschen Todeslager deportiert hat, aus der Verantwortung entlassen. Das Regime von Vichy war antisemitisch, gibt Varaut im Schwurgericht in Bordeaux zu. Aber bloß, um es umgehend als „Vichy-Antisemitismus“ zu verharmlosen. Es sei „ein Antisemitismus der sozialen Ausgrenzung (gewesen), der nichts mit dem hitlerschen Rassismus“ zu tun gehabt habe.

Das Abkommen zwischen dem französische Polizeichef Bousquet und dem deutschen Oberg vom Juli 1942, das die Einzelheiten der Deportationen regelte, nennt Varaut „Kuhhandel“. Ein „Maximum an Personen wurde geopfert, um ein Minimum zu retten“, erklärt der Anwalt, aber „die Juden waren nicht die Feinde von Vichy.“

Der 65jährige Varaut kennt sein Thema. 1995 hat er ein ganzes Buch über den obersten Kollaborateur von Vichy veröffentlicht. Dabei versuchte er, Marschall Pétain freizusprechen, ohne Vichy zu rehabilitieren. In Bordeaux hat er die Technik auf seinen Mandanten Papon übertragen, der „einer jener Beamten und Polizisten (...) war, die sich angesichts von Befehlen gebeugt haben, die von der Regierung kamen, die sich ihrerseits den Befehlen der Nazis gebeugt hat.“

Statt als Täter beschreibt Varaut den Angeklagten als Verteidiger der Republik. „Er hat das Haus der Republik für den Moment ihrer Rückkehr bewahrt“, sagt er. Dann kritisiert er den Papon-Prozeß als den letzten „Säuberungsprozeß“ und richtet die Aufmerksamkeit auf die „großen Abwesenden“ im Gerichtssaal: die Nazis.

Tatsächlich war der Geschworenenprozeß in Bordeaux ein „franco-französisches“ Ereignis, das zahlreiche nationale Heiligtümer antastete und zugeschüttete Gräben aufriß. Außerhalb des Gerichtssaales machte das unter anderem der Anwalt Serge Klarsfeld deutlich, als er im Figaro erklärte, auch die „Résistance habe dazu beigetragen, daß Juden in den Tod geschickt wurden“. Im Gericht schimpfte ein alter Gaullist, daß „bloß Deutschland“ von diesem Prozeß profitiere. Und Ex-Résistance-Kämpfer im Zeugenstand beschworen die Geschworenen, Papon nicht zu verurteilen.

Denn Papon, der die Juden aus Bordeaux deportierte, hatte auch eine Nachkriegskarriere – zu dem ihm ausgerechnet der Chef der Résistance, General de Gaulle, verhalf. Unter dessen Ägide wurde Papon Ende der 50er Jahre Polizeipräfekt von Paris. Unter Valéry Giscard d'Estaing brachte er es in den 70er Jahren bis zum Haushaltsminister.

Auf der Seite der Zivilkläger ist die Tatsache, daß das Verfahren überhaupt stattgefunden hat, heute der vielleicht einzige Anlaß zur Zufriedenheit. Alain Lévy, der mehrere Zivilkläger vertritt, erklärt das wichtigste Ergebnis dieses längsten Prozesses der französischen Geschichte so: „Die Politik der Kollaboration zwischen Vichy und den Nazis mit dem Ziel der Ausrottung der Juden ist deutlich geworden.“ Ganz egal, welche Strafe der Angeklagte (der schon angekündigt hat, in die Berufung zu gehen) bekommt.