Spalten überbrücken

In Graz fand die „Diagonale '98“ statt – der österreichische Film erweist sich als letzte Bastion des Autorenfilms  ■ Von Richard Stradner

Für deutsche Augen und Ohren (und es sind vor allem die Ohren, die sich an der tonalen Exotik österreichischer Münder entzünden) entwickelte sich der sogenannte Österreichische Film im Laufe der letzten Festivaljahre zu einer letzten, kleinen Bastion des soliden kleinen Autorenfilms. Klein bezieht sich dabei auf heimatspezifische Thematiken, vergleichbar vielleicht dem kritischen deutschen Heimatfilm der 70er und dem gegenwartsorientierten, mehr oder weniger politischen Kino eines Klier der 80er und 90er Jahre.

Aber wie im deutschen Kino bildet die Diskrepanz zwischen Festivalanerkennung und Kassenerfolg jene Spalte, die Produzenten, Regisseure, Schauspieler, Kritiker und das Publikum gleichermaßen trennt. Nun, nationale Festivals wie die „Diagonale '98“, die eine Gesamtschau des österreichischen Filmschaffens des vergangenen Jahres bieten wollen, haben solche Spalten naturgemäß – zu überbrücken.

Sechs Tage lang, vom 24. bis zum 29. März, präsentierte sich der österreichische Film hundertundeinundsechzigundeinfach in seiner ganzen Fülle das erste Mal in Graz, der nach Wien zweitgrößten Landeshauptstadt Österreichs. Die Jahre in Salzburg seit 1993 erreichten vorzüglich die angereiste Kritik, das einwohnende Zuschauerpotential aber so gut wie gar nicht. Die „Diagonale '98“ haben die beiden neu designierten geschäftsführenden Intendanten Christine Dollhofer und Constantin Wulff öffentlichkeitswirksam als Kinoerlebnis mit affektiver Szeneumrandung gelungen gestaltet. So daß man im eher kinoträgen Graz plötzlich das Gefühl hatte: Wenn das ankommt, hat das eine Zukunft – die sich unter anderem mit der Installierung des „DokMarktGraz“ als internationale Anlaufstelle für den Dokumentarfilm etablieren könnte. Wo sich Produzenten, TV-Redakteure und Regisseure – zumindest bei steirischem Wein – potentiell zusammenfinden können.

„This is not a time of birth! No!! This is a time of death!!!“ Damit eröffnet Joe Coleman in Robert- Adrian Pejos Künstler-Hagiographie, halbnah mit Mikro und Rauschebart aufgenommen, seine Vision von der Verkommenheit der westlichen, speziell amerikanischen Zivilisation („Rest in Pieces“). Diese Generalverurteilung wird in den folgenden 90 Minuten, in denen Künstlerkollegen (darunter Jim Jarmusch), Exfrauen, Psychiater und Geschwister die Psyche des Sado-Maso-Dandy und akribischen Malers zu entschlüsseln versuchen, des öfteren wiederholt. Dazwischen hat es idyllische Panoramabilder des „Krebses“ New York und eine Menge Reminiszenzen an Freakshows und explosive Körperperformances.

Gegen dieses solide Porträt eines katholisch morbiden Großstadtparanoikers nimmt sich die zweistündige Alpin-Meditation „Am Stein“ von Othmar Schmiderer radikal avantgardistisch aus. Einen Sommer lang begleitete der mit ethnographischem Blick begabte Regisseur den Schriftsteller und Senner Bodo Hell im weltabgewandten Karstgebiet der Dachsteinregion, wo bei starken Regengüssen noch an Geister gedacht wird. In ausladenden Schwenks und gezielt kadrierten Langeinstellungen auf Tiere, Menschen und Gestein entsteht das Zeit-Bild einer Region jenseits dieses Jahrhunderts – obwohl nur wenige hundert Kilometer von der nächsten Großstadt entfernt.

Mit einem „Heimatfilm“ auf der Höhe ungemütlicher Gegenwart wurden die Filmtage eröffnet. In Florian Flickers zweitem abendfüllenden Spielfilm „Suzie Washington“ versucht eine Georgierin ohne Paß über Wien nach Los Angeles zu kommen, was auf eine unfreiwillige Toure de Force durch die österreichische Provinz hinausläuft. Mit einem gestohlenen französischen Paß gelingt es ihr letztlich, den unwirtlichen Alpen zu entkommen. Flicker gelingt das schöne Paradox eines Road Movie, das von der erzwungenen Stagnation erzählt. Permanent auf der Flucht, kommt seine, auf zerbrechliche Weise soldatische Hauptdarstellerin (Birgit Doll) doch nicht weiter. Weit entfernt davon, in das hierzulande so verbreitete Parabelhafte abzugleiten, verbirgt seine geradlinig souverän erzählte Story die Metapher von der ausweglosen Freiheit in einem demokratischen Land.

Auch Andreas Grubers jüngster Spielfilm „Die Schuld der Liebe“, mit einer bis zur Abstraktion unterkühlten Sandrine Bonnaire in der Haupt- und einem sehr sachlichen Rüdiger Vogler in tragender Nebenrolle, kann sich am europäischen Kinoniveau messen. Auf der Suche nach der wahren Identität ihres verstorbenen Politiker-Vaters durchmißt die aus Brüssel angereiste Tochter die ganzen moribunden und korrupten Untiefen der österreichischen Seele.

Die im übrigen in einem kleinen Festivaldetail schamhaft zum Vorschein kam: Mit einer kleinen Reihe von ihm geschätzter Filme wurde des langjährigen Leiters der Österreichischen Filmtage in Wels gedacht, des im Vorjahr jung verstorbenen Reinhard Pyrkers. Daß der Mann am Intrigantensumpf österreichischer Filmpolitik zugrunde ging, ist ein allseits bekanntes Geheimnis. Die vom letzten Kulturminister ins Leben gerufene „Diagonale“ hat das ihrige dazu beigetragen: Sie war unsprünglich als Gegenentwurf zu Wels konzipiert.