"Alle sind die besten"

■ Die brandaktuelle Media-Analyse soll Daten liefern, wer wann welchen Radiosender hört. Das hat weniger mit Programmqualitäten zu tun, als damit, wer die dicksten Gewinnspiele hat

Gestern, Punkt neun Uhr. Es geht es los. Deutschlands Radiomacher wählen eine Frankfurter Nummer. Die Stimme am anderen Ende der Leitung sagt ein Codewort. Nur damit läßt sich eine in den Tagen vorher eingetroffene CD-ROM entschlüsseln, auf der die MA-Daten gespeichert sind. MA heißt Media-Analyse. Sie soll ermitteln, wer wann welchen Sender wie lange hört, und wie alt, arm oder reich er oder sie ist. Fieberhaft durchkämmen die Privatradiomenschen die nach Altersgruppen, Tageszeiten und Fragearten aufgeschlüsselten Tabellen. Jeder Sender muß den Wert finden, bei dem er vorn liegt und den er per Pressemitteilung und im eigenen Programm heraustrompeten kann. „Alle sind dann die besten“, sagt Privatfunker Thomas Melzer von Radio Brocken in Sachsen-Anhalt.

Wer die wirklichen Verlierer und Gewinner sind, entscheiden nicht die Radios selbst, sondern die Manager der Werbewirtschaft. Und zwar mit den Werten, die ihnen passen. So werden die Preise der Werbespots an die Zahl der Hörer gekoppelt, die ein Sender pro Stunde von Montag bis Samstag in der Zeit zwischen 6 und 18 Uhr erreicht. Spätestens dann ist es bei einigen mit dem Jubeln vorbei. Da wird die Musikauswahl verändert, die Zahl der Wortbeiträge verringert oder Frühstücksmoderatoren in den Abend versetzt. In Härtefällen rollen Köpfe, und das nicht nur beim Privatfunk. Wie letztes Jahr in Leipzig, wo der Programmchef der Popwelle MDR live gefeuert wurde, weil er schon zum zweiten Mal miserable MA- Zahlen vorzeigen mußte.

Derartige Maßnahmen setzen freilich voraus, daß die MA-Zahlen tatsächlich für die Zahl der Hörer stehen. Das muß aber nicht so sein. Denn während die TV-Quoten mit Meßgeräten bei ausgewählten Zuschauern ermittelt werden, basiert die MA allein auf Befragungen. Mitarbeiter von acht Forschungsinstituten klingeln immer im Frühjahr und im Herbst bei knapp über 50.000 Durchschnittsmenschen und fragen, welche Radiosender sie gehört haben. Als Gedächtnisstütze werden den Befragten Karten mit dem Namen und dem bekanntesten Werbeslogan eines Senders gezeigt. Ihr Erinnerungsvermögen hängt deshalb nicht allein davon ab, daß sie einen bestimmten Sender wirklich eingeschaltet hatten. Auch das Werbeplakat an der nächsten Straßenbahnhaltestelle spielt dafür eine Rolle.

Deshalb versuchen die Radios, Namen und Slogan mit schrillen PR-Aktionen in die Köpfe einzuhämmern: Jeden „10.000 Mark- Morgen“ machte im letzten Herbst 104.6 RTL aus Berlin den jeweils 104. Anrufer glücklich, der im Sender anrief und losbrabbelte, wer am selben Morgen im Boulevardblatt B.Z. abgebildet war. Der Moderator des Konkurrenzradios r.s. 2 ließ gleich 10.000 Fünfmarkscheine auf den Alexanderplatz regnen. r.s. 2 war es auch, der ehedem im Hochsommer drei Hörer in einen schwarzen Mercedes sperrte – wer als letzter ausstieg, bekam das Auto. Und in München mußten Interessierte schon nackt auf die Moderatoren von Radio Gong zurennen, um eine Reise auf die Malediven zu ergattern. Für solche „Events“ geben die Sender Millionen aus und beschäftigen eigene Promotionredaktionen.

Unbeirrt behauptet die Frankfurter Arbeitsgemeinschaft Media Analyse (AGMA), sie liefere „harte und anerkannte Zahlen“. „So hart wie irgend eine afrikanische Währung“, spottete letztes Jahr der Werbeagenturchef Ulrich Bellieno. Und Helmut Lehnert, Wellenchef von Radio Eins beim öffentlich-rechtlichen Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg stellte fest: „In der MA wird nicht das Programm abgebildet, sondern der Erfolg der Gewinnspiele.“

Ob die MA-Werte nun Schmu sind oder nicht, könnte eigentlich egal sein, da sich letztlich alle irgendwie darauf geeinigt haben. Die Dummen sind aber die kleinen Sender, die nicht Millionen in Gewinnspiele stecken können. „Wir können nicht unser ganzes Geld unter die Leute werfen“, ärgert sich Julian Allitt vom Berliner Jazzradio. Überhaupt sei die AGMA ein einziges „Kartell“. Von Werbewirtschaft, großen Sendern und Radiovermarktungsfirmen getragen, grenze sie kleine Radios mit unfair hohen Mitgliedsbeiträgen aus. Denn nur Mitglieder bekommen die MA-Datensätze. Benachteiligt sehen sich die Kleinen auch durch die Mindestfallzahl: Nur Sender, die wenigstens 351 Mal genannt wurden, tauchen überhaupt in der Untersuchung auf. Und nur in ausgewählten Gebieten werden auf Wunsch und gegen Bezahlung der dort ansässigen AGMA-Mitglieder mehr Menschen befragt.

Schon grübeln Medienforscher, wie die Radio-Zahlen zuverlässiger ermittelt werden können. Techniker in den USA, der Schweiz und Deutschland basteln an sogenannten Radiometern. Durch ein „Untersignal“ der Radiostationen kann so ein Gerät den Sender identifizieren. Es gibt sogar Modelle, die alles Gedudel und Geplapper aus dem Radio aufzeichnen. Ziel ist ein Meßgerät in der Größe einer Armbanduhr oder wenigstens ein Hosentaschengerät. Vor Jahren geisterte sogar die Idee durch die Branche, die beste Lösung könne ein Implantat sein.

Vorerst ändert sich aber nicht viel. Nur, daß es 1998 erstmals nicht nur einen, sondern zwei Berichte pro Jahr geben soll. Dann sind alle gleich zweimal pro Jahr die besten. Georg Löwisch