■ Demokratie unter Druck (6): Totalitäre Sekten und Psychogruppen trainieren die Erfolgsbereiten und werden so zum Teil der Gesellschaft
: Verwaiste Seelen, religiöses Grummeln

Immer wenn in Deutschland Dinge passieren, die nach gängiger Moralvorstellung nicht geschehen dürften, dann wird verzweifelt davon gesprochen, daß Werte nichts mehr wert seien. Reflexartig wird nach den Kirchen gerufen. Doch die konstatieren eine zunehmende Verweltlichung. Und der ungläubige Osten mit seinem Atheismus muß ebenso herhalten wie der Wohlstandsbürger West, der nicht mehr zum Gottesdienst schreitet.

Wenn es doch so einfach wäre, daß niemand mehr glaubt und deshalb alle Wertvorstellungen zum Teufel gehen. Wahrscheinlicher ist das Gegenteil: Die Leute möchten so gerne an etwas glauben. Doch wer will fast fünf Millionen Arbeitslosen guten Gewissens den Himmel auf Erden versprechen? Und zu welchem Termin? Und wer will allen Ernstes behaupten, er habe die Lösung für die verwickelten Probleme der Gegenwart? Das können nur Scharlatane.

Doch vielen Menschen fehlt inzwischen nicht der Glaube, sondern irgendein Glauben an irgend etwas. Wie eine Sehnsucht, die sich nicht näher beschreiben läßt, so eine Art religiöses Grummeln im Bauch. Eine zunehmend rationalere und schwierigere Welt läßt Orientierung und Heil schmerzlich vermissen.

Doch die westlichen Demokratien sind, wie es der Soziologe Ralf Dahrendorf ausdrückte, „cold projects“, kalte Projekte. Zwar schaffen sie Raum für freiheitliche Verhältnisse, aber als Objekt heißer Gefühlsaufwallungen oder heftiger politischer Leidenschaften taugen sie nicht. Die offizielle Politik ist zum Ritual erstarrt, das höchtens nervt und meistens langweilt.

Die Sehnsucht nach Geborgenheit, die Sehnsucht nach – wenn schon nicht Wissen – dann wenigstens Glauben, diese Sehnsucht bleibt. Wo grundlegende Sicherheiten in Frage gestellt sind, wie Arbeit und Zukunft, da friemelt sich jeder seinen Lebensentwurf zusammen. Oder, wie es Gilbert K. Chesterton schrieb: „Wenn Menschen aufhören, an etwas zu glauben, dann glauben sie nicht an nichts; sie glauben an alles mögliche.“

Das ist die Stunde der Propheten und sie kommen in Scharen: die falschen Heiligen, selbsternannten Therapeuten und erleuchteten Paare. Sie bieten das, was fehlt, sie besetzen die verwaisten Seelen. Sie haben keine Skrupel zu behaupten, sie allein würden das rettende Rezept kennen. Und zwar für jeden ein anderes, mit der scheinbar ganz subjektiv für ihn bemessenen Dosis. Dem Schlichten bieten sie Wärme, dem Erfolgshungrigen Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sich Elite nennt.

Man muß nur ein bißchen clever sein, ein bißchen charismatisch, ein bißchen geschäftstüchtig und ein bißchen gut aussehen (ja, meistens nicht mal das), um seine eigene Sekte gründen, um davon nicht schlecht leben zu können. Dieser Zustand spricht – entgegen unter Intellektuellen gängigen Klischees – nicht für die Blödheit der Leute, die in solche Gruppen rennen, sondern für den katastrophalen Zustand dieser Gesellschaft. Sie wird kaum noch in Frage gestellt. Sie ist da, eine Alternative gibt es nicht. Also nehmen wir sie hin.

Die Spaltung der Gesellschaft in Minderheiten von Gewinnern und eine Mehrheit von Verlierern ist der ideale Nährboden für Kultgruppen und Verführer jeder Art. „Sekten“ haben deshalb Erfolg, weil sie nichts Exotisches sind, nichts, was außerhalb der Gesellschaft existiert, sondern aus ihrer Mitte kommen.

Einer der großen Irrtümer (besonders unter Linken) ist der Glaube, daß nur Verlierer, Einsame und Schlichte auf Sekten hereinfallen. Oft genug wird deshalb vom Recht auf Dummheit gesprochen. Natürlich kann sich jeder Mensch einlassen auf was er immer Lust hat. Aber vergessen wir nicht, daß wer an Sekten geraten ist, in den allermeisten Fällen angeworben wurde; ganz gezielt und mit subtilen, ausgeklügelten Methoden. Freiwillig ist nur der erste Schritt.

Zudem boomt in den letzten Jahren ein Markt, der eben gerade nicht die Dummen anzieht, sondern die Erfolgsbereiten: der Markt für Managementschulungen und Persönlichkeitstrainings. Dieser Markt ist äußerst lukrativ, und wo viel Geld zu verdienen ist, da tauchen die Scharlatane auf wie Pilze nach einer feucht-warmen Sommernacht. Unter den Kursanbietern die seriösen herauszufiltern wird immer schwieriger. Nicht selten stellen Teilnehmer solcher Fortbildungen fest, daß mancher Trainer versucht, ihnen Führungsqualitäten mit ausgesprochen autoritären Methoden beizubiegen. Methoden, wie sie in Psychogruppen gang und gebe sind und die via Kurs auch in Großunternehmen, Universitäten und Volkshochschulen einsickern. Kenner dieser Szene sprechen inzwischen von einer schleichenden „Orwellisierung“ der Wirtschaft. Ob solche „Kampfmanager“ tatsächlich in der Lage sind, die Probleme ihres Unternehmens langfristig zu lösen, ist eine andere Frage.

Manche Kurse erzeugen zudem bei den Teilnehmern eine Art Rausch und den Wunsch, dieses kurze Glücksgefühl von Erfolg und Macht, das im Alltag ausbleibt, immer wieder zu erleben.

Was dann in diesen „Gruppen mit vereinnahmender Tendenz“ mit den Angeworbenen geschieht, ist in zahlreichen Büchern beschrieben: Anhänger geraten in einen Teufelskreis von Bedürftigkeit und Sucht. Aus ihrer Sehnsucht nach Wärme und Zugehörigkeit wird zwanghafte Abhängigkeit. Mancher ist schon bald komplett unfähig, außerhalb, geschweige denn ohne die Gruppe zu leben. Ehemalige Anhänger der Berliner Psycho-Gruppe „Kontext“ erzählten, daß sie schon bald viele lächerlich kleine, private Entscheidungen mit der Leiterin besprachen. Ja, ohne diese Rücksprachen möglicherweise ihr Leben nicht mehr hätten meistern können.

Sekten und Psycho-Gruppen sind wie Hohlräume in einer Gesellschaft, die selbst wenig Halt bietet. Jedoch: Die Unterschiede zwischen den Hohlräumen und der Gesellschaft drumherum nehmen ab. „Drinnen“ wie „draußen“ werden soziale Sicherungssysteme abgebaut oder sind gar nicht vorhanden. Die Wände zwischen beiden sind porös geworden. Das führt dazu, daß sich viele – auch totalitär strukturierte – Sekten nicht nur als Teil der Gesellschaft fühlen, sie sind es auch.

Sekten treiben auf die Spitze, was außerhalb durch soziale Netze und demokratische Kontrolle abgefedert wird. Sie sind der Zerrspiegel einer pur erfolgsorientierten Gesellschaft, deren atemloses Tempo immer mehr Menschen herausschleudert oder unter die Räder geraten läßt. Liane v. Billerbeck