■ Papon-Prozeß: Nicht das Urteil, seine Begründung ist kritikwürdig
: Zwiespältige Bewältigung

Das Urteil von Bordeaux wird Justizgeschichte schreiben. Über 50 Jahre nach Kriegsende ist zum ersten Mal ein hoher französischer Staatsdiener der Komplizenschaft bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden worden. Nach den Erklärungen von Staatspräsident Chirac und denen der sozialistischen Regierung hat damit jetzt auch das französische Volk die Mitverantwortung des Vichy- Regimes an der Judenverfolgung, den Deportationen und dem Genozid erkannt und gebrandmarkt. Denn in Bordeaux hat ein Schwurgericht zu entscheiden. Insofern hat Vergangenheitsbewältigung gestern eine neue Etappe erreicht. Dennoch ist das Urteil gegen Maurice Papon nicht klar. Seine Unentschiedenheit drückt sich sowohl im Strafmaß als auch in der Benennung von Papons Verantwortung aus.

Die zehn Jahre Gefängnis, die für einen 87jährigen gleichbedeutend mit lebenslänglich sein mögen, nehmen sich im Verhältnis zu der Bedeutung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit – der schwerwiegendsten und deswegen auch nicht verjährenden Verbrechenskategorie überhaupt – wie eine Kleinigkeit aus. Folgenreicher noch ist die Bewertung von Papons Verantwortung, der ausschließlich wegen Verhaftungen und Freiheitsberaubung der Juden von Bordeaux verurteilt wurde und eben nicht als Komplize ihrer Vernichtung.

Diese Einschätzung ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht der Opfer des Holocaust und ihrer Angehörigen, sondern auch jener Franzosen, die im Gegensatz zu Papon ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt haben, um Juden vor der Deportation und dem daraus resultierenden Mord zu retten. Für diese zigtausend Anständigen, die wußten, was Papon mit seinen engen Beziehungen zur Spitze des Vichy-Regimes nicht wissen wollte, ist das Urteil von Bordeaux eine Ohrfeige. Es verwischt die Unterschiede zwischen jenen, die Widerstand leisteten, und jenen, die die staatlichen Verbrechen organisierten.

Deswegen ist das Urteil von Bordeaux bloß historisch, aber nicht salomonisch. Nach den – ebenfalls exemplarischen – Aburteilungen des deutschen Nazis Barbie und des französischen Milizionärs Touvier ist jetzt mit Papon über einen aus der Elite von Vichy gerichtet worden. Damit hat Frankreich alle Kategorien von Verantwortlichen abgearbeitet, ohne je die Rolle des Regimes bei der „Endlösung“ geklärt zu haben. Jetzt kann es heißen: Frankreichs Justiz hat gearbeitet. Sie hat Vichy „erledigt“. Bitte weiterblättern. Dorothea Hahn