Zehn Jahre Haft für den Schreibtischtäter von Vichy

■ Mit einem vergleichsweise milden Urteil ging in Frankreich der Prozeß gegen Maurice Papon wegen Beihilfe an der Judendeportation zu Ende. Bis zur Berufung bleibt er auf freiem Fuß

Paris (taz) – 18 Stunden in totaler Klausur waren nötig, bis sich die neun Geschworenen und drei Berufsrichter in Bordeaux zu ihrem Urteil zusammengerauft hatten. Es lautete: schuldig. Maurice Papon hat Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, indem er als Generalsekretär der Präfektur der Gironde zwischen 1942 und 1944 Juden in Bordeaux verhaften und in Konvois abtransportieren ließ. Eine Mitverantwortung des Angeklagten am systematischen Mord der Deportierten hingegen erkannte das Schwurgericht nicht.

Seine Verurteilung zu 10 Jahren Freiheitsstrafe und ebensolangem Entzug der Bürgerrechte nahm der 87jährige Papon gestern früh in Bordeaux ungerührt entgegen, beauftragte seinen Verteidiger, in Revision zu gehen, und verließ das Gerichtsgebäude als freier Mann, was er bis zum Revisionsentscheid bleiben wird.

Die Reaktionen auf dieses Urteil am Ende des längsten Prozesses der französischen Geschichte reichten von Erleichterung über Enttäuschung bis hin zu blanker Empörung. „Dies ist der schönste Tag meines Alters“, erklärte eine weinende alte Dame, deren Familie in den 40er Jahren aus Bordeaux deportiert und in den Vernichtungslagern der Nazis ermordet worden ist. „Ich bin frustriert, weil das Gericht den Vorwurf der Komplizität mit Mord nicht berücksichtigt hat“, erklärte eine andere Überlebende, Esther Fogiel, gestern in Bordeaux. „Ich bedauere, daß der Angeklagte nicht lebenslänglich bekommen hat“; erklärte Jean Kahn, Vorsitzender des „Consistoire“, der Vertretung der jüdischen Franzosen.

Michel Slitinsky, der sich als junger Mann der Résistance anschloß, nachdem seine komplette Familie aus Bordeaux deportiert worden war und der seit dem Beginn der Ermittlungen gegen Papon vor nunmehr 17 Jahren unermüdlich am Zustandekommen des Prozesses gearbeitet hat, erklärte gestern, „der Kampf geht weiter, wir werden jetzt die Inhaftierung von Papon verlangen“. Ein anderer Überlebender, Maurice-David Matisson, beklagte: „Unsere Eltern sind ermordet worden. Das Gericht hätte konsequent bis zum Ende gehen müssen.“

Auch Gérard Boulanger, einer der 22 Anwälte der Überlebenden des Holocaust, zeigte sich offen enttäuscht. „Auf eine gewisse Art“, sagte er gestern, „ist die Verantwortung von Papon für die Morde nicht geklärt worden.“ Rundum mit dem Urteil zufrieden äußerte sich hingegen Serge Klarsfeld. „Die Geschichte wird sich merken, daß in Bordeaux ein Spitzenbeamter von Vichy als Verbrecher gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde. Das ist das Entscheidende“, sagte er gestern.

Nach dem deutschen SS-Mann Barbie und dem französischen Milizionär Touvier, die beide wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslänglich verurteilt wurden, ist Papon in Frankreich der dritte, dem diese schwerste aller Verbrechenskategorien vorgeworfen wurde. Das Zustandekommen seines Prozesses war zugleich das schwierigste von allen dreien. Die Vorermittlungen gegen Papon, der nach dem Krieg eine Karriere als Polizeipräfekt von Paris und später als Haushaltsminister gemacht hatte, dauerten insgesamt 17 Jahre und wurde von zahlreichen Seiten behindert.

Der Historiker David Douvette sprach gestern angesichts des relativ milden Urteils von einem „Arrangement zwischen gewissen Zivilklägern, der Regierung und der Verteidigung von Papon“. Zur Erklärung erinnerte Douvette an das schwierige Verhältnis Frankreichs zu seiner Geschichte zwischen 1939 und 45: „Es gibt Millionen Menschen, die kein sauberes Gewissen haben, weil sie an der Verfolgung und der Beraubung der Juden beteiligt waren.“ Der Papon- Prozeß habe immerhin „eine Tür geöffnet“: „Jetzt kann man die Geschichtsschreibung über Vichy nicht mehr stoppen.“ Dorothea Hahn

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