Windmühlen wären harmloser

Abertausende sind auf

dem Horrortrip. Sie hungern, schlucken mörderische Diätpillen, lassen auf der Schönheitsfarm ihre Muskulatur unter Strom setzen. Und werden dennoch immer dicker. Dabei scheinen Ursachen und Mechanismen des Bauchansatzes zumindest wissenschaftlich geklärt. Übergewicht hat soziale Gründe. Übergewicht ist eine Altlast der Evolution. Sogar ein Gen wurde entdeckt, das Übergewicht verursacht. Gebracht haben alle Erklärungen aber nichts: Die Menschheit sucht immer noch verzweifelt nach der ultimativen Schlankheitskur.

Von Manfred Kriener

Den totalen Triumph der Adipositas, zu deutsch Fettleibigkeit, werden die LeserInnen dieses Artikels nicht mehr erleben. Am 1. Januar 2230 ist es soweit. Dann sind nach Berechnungen von Ernährungswissenschaftlern der Universität Houston exakt hundert Prozent der Amerikaner übergewichtig. Helmut Kohl als US-Normgröße? Oder wird eine neue Generation von hormonellen Appetitzüglern und gentechnischen Magermachern den schlanken Menschen formen?

Die Forscher haben bei ihren Hochrechnungen nur den Trend der letzten Jahrzehnte fortgeschrieben. Der ist ziemlich verheerend. Während die Pin-up- Girls des Playboy meßbar dünner wurden, legten die Leser kräftig zu: Heute ist beinahe jeder dritte Amerikaner stark übergewichtig bis adipös. Und das, obwohl in den USA jährlich dreißig Milliarden Dollar für Schlankheitskuren ausgegeben werden. Vergebens. Diäten helfen sowenig wie die Erkenntnisse der Wissenschaft. Im Zeitraum von 1966 bis 1995 sind weltweit 34.894 Forschungsarbeiten zum Thema „Übergewicht“ erschienen. Schlank machten sie nur den Forschungsetat.

Im vergangenen Jahr ging die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in die Offensive. Die Genfer Behörde lud Experten aus 25 Ländern zum dreitägigen Übergewichts-Gipfel. Das Fazit: „Eine eskalierende Epidemie der Übergewichtigen und Fettleibigen hat viele Länder erfaßt und wird, wenn keine wirksamen Maßnahmen zur Abwehr ergriffen werden, Millionen Menschen krank machen.“ Übergewicht sei eines der größten Gesundheitsrisiken, vergleichbar mit dem Rauchen.

Lange seien die Gewichtsprobleme der Menschen vernachlässigt worden, resümiert die WHO. Inzwischen hätten sie Ausmaße angenommen, die in vielen Ländern die Gesundheitssysteme überfordern. Diabetes und Herz-Kreislauf- Krankheiten, Knochen- und Skelettprobleme und die Häufung bestimmter Krebsarten gehören laut WHO zu den möglichen Folgen starken Übergewichts.

Die Statistik stimmt nicht freudiger. In Westeuropa sind zehn bis 25 Prozent aller Erwachsenen stark übergewichtig, in Ost- und Südeuropa vierzig Prozent der Frauen. Noch dicker sind US-Indianer und Puertorikaner. Nicht zu schlagen aber: die Bewohner der Pazifikinseln Mikronesiens und Polynesiens, die sich seit den Atombombentests der Amerikaner an importiertem Junkfood und Dosennahrung satt essen. Auf der mikronesischen Insel Nauru werden siebzig Prozent der Frauen als „Class I obese“ eingestuft, fettleibig in höchstem Grad.

Dicke sind Opfer der Evolution, eines über viele Generationen und Spezies entwickelten Freßverhaltens. Wer überleben wollte, mußte viel futtern und wenig Energie verbrauchen – Reserven für Hungersnöte und Krankheiten anlegen. In der Wildnis nach wie vor prima Eigenschaften. In der Zivilisation jedoch hat sich die Versorgungslage seit zwei Generationen geändert, ein Zustand, an den wir noch lange nicht angepaßt sind. Seit fünfzig Jahren herrscht in den Industrieländern Überfluß. Seither wachsen Bauchumfang und Gesundheitsprobleme im selben Tempo, in dem Bewegung und Energieverbrauch abnehmen. Der Mensch, Chips knuspernd, sitzt frustriert in der Wohlstandsfalle.

Gut erforscht sind die sozialen Risikofaktoren für die Gewichtsexplosion. Der ideale Kandidat für eine Adipositas-Karriere zeichnet sich etwa folgendermaßen aus: geringe Intelligenz, regelmäßiger Alkoholkonsum, niedere soziale Schicht, Eheschließung, geringe körperliche Aktivität und Nikotinentwöhnung als größte Risikofaktoren. Beim Alkoholkonsum allerdings muß differenziert werden. Weintrinker bleiben schlanker, sie können sogar abnehmen, wenn sie den Rebensaft gezielt und in Maßen zum Essen trinken.

Doch Übergewicht ist auch genetisch bedingt. Viele Forscher glauben sogar, hauptsächlich. Nun teilen Familien mit Übergewicht aber nicht nur ihre Gene, sondern auch Küche, Tischkultur, Lebensstil. Welcher Einfluß dominiert? Untersuchungen an Adoptivkindern bestätigen den Vorrang der Gene. Im Körperumfang ähnelt der Nachwuchs eher den leiblichen als den Adoptiveltern. Den sozialen Faktoren wird ein etwa dreißigprozentiger Einfluß zugestanden.

Doch mit der Schuldzuweisung an die Gene ist es nicht getan. Jetzt versuchen Wissenschaftler die „Pathophysiologie der Fettleibigkeit“, also ihre genaue Entstehung, zu klären. Die entscheidenden Fragen: Was passiert bei der Gewichtszunahme im Körper? Wie werden Appetit und Fetteinlagerung gesteuert? Eine neue Dynamik erhielt die Diskussion durch den Molekularbiologen Jeffrey Friedman. Auf dem „Chromosom 6“ von erblich fetten Mäusen fand der New Yorker Forscher einen Defekt, der diesen Nagerstamm dreimal so dick macht. „OB-Gen“ (Obesity- Gen) nannte sein Team diese Position im Genom, die als wichtige Instanz für die Kontrolle des Körpergewichts gilt. Das OB-Gen nämlich ist für die Produktion des Hormons „Leptin“ in den Fettzellen verantwortlich.

Friedmans Theorie gewann an Gewicht, als er nachweisen konnte, daß die mopsigen Mäuse rapide bis zu dreißig Prozent ihres Gewichts verlieren, wenn er ihnen Leptin spritzte. Seitdem ist die Pharmabranche elektrisiert: Alles wartet auf eine Anti-Fett-Kur durch die Hormonspritze. Ein bißchen Leptin, und schon schmelzen die Fettdepots wie die Gletscher im Treibhaus Erde. Doch Menschen sind keine Mäuse. Fettleibige Versuchspersonen haben – schade eigentlich – eher zuviel als zuwenig Leptin. Und sie besitzen nur in Ausnahmefällen ein mutiertes OB- Gen. Dennoch konzentriert sich die Wissenschaft weiter auf diese Theorie, da bei sehr dicken Menschen häufig Veränderungen in der Nachbarregion des OB- Gens entdeckt wurden. Die Pharma-Branche wittert noch immer ein riesiges Geschäft. Bei 200 Millionen stark Übergewichtigen allein in den USA und der EU winkt mit der Magerspritze ein Milliardengeschäft.

Das ist der Diätenrummel schon heute. In der Bundesrepublik hat jede zweite Frau eine Abmagerungskur hinter sich. In der Altersklasse von dreißig bis fünfzig Jahren haben zwei von drei Frauen mindestens einmal in ihrem Leben mit Eier-, Kartoffel- und Reiskuren, mit „Friß die Hälfte“, Trennkost und Windhund-Diät den vergeblichen Kampf gegen die Pfunde aufgenommen. Die Diäten machten sie nicht nur deprimiert und lustlos, sondern auch dick. Der Stoffwechsel schaltet während der Hungerphase auf Sparflamme, der Grundumsatz fällt. Untersuchungen zeigen, daß der Körper, der Not gehorchend, im Ernstfall mit nur 850 Kalorien auskommt. Normal wären 2.000. Wird danach wieder richtig gegessen, bleibt der Körper zunächst auf Minimumsatz und holt sich die Pfunde – und meist noch etwas mehr – schnell wieder zurück: der Jo- Jo-Effekt. Obwohl das inzwischen in allen Volkshochschulen und Frauenzeitungen gepredigt wird, hat sich nichts geändert. Dieselben Magazine, die vorn im Heft den Diätwahn geißeln, drucken weiter hinten die ultimative Frühjahrskur.

So hoch ist der Leidensdruck vieler Übergewichtiger, daß sie auch vor chemischen Keulen nicht zurückschrecken. Fünf Millionen Packungen Schlankheits- und Entwässerungsmittel werden in der Bundesrepublik im Jahr verkauft. Wie Dealer ihre Junkies, füttern Ärzte und Apotheker ihre Klientel mit Tabletten und Pülverchen. Mögliche Nebenwirkung: Tod. So beim Diätpillenskandal vor zweieinhalb Jahren. Skrupellose Mediziner hatten eine gefährliche Mixtur zusammengebraut, an der mehrere Menschen starben. Auch die berüchtigte Atkins-Diät, die den Verzehr von Kohlenhydraten untersagt, sowie andere auf Eiweiß und Fett konzentrierte Kuren forderten Todesfälle. Nierenschäden, Gicht und lebensbedrohliche Entzündungen der Bauchspeicheldrüse häuften sich.

Die Diättips reichen bis zum künstlich verdrahteten Kiefer als Eßbremse. Hypnose und Magenoperation, Fettabsaugen und Pölsterchen-Rubbeln gehören ebenfalls zum Anti-Speck-Arsenal. Letzter Schrei sind Schlankheitsstudios, die ihre Klienten für teures Geld unter Strom legen und so am ganzen Körper die Muskeln flattern lassen.

Doch wer wirklich dauerhaft abnehmen will, muß schon seinen Lebensstil ändern. Statt der meist sinnlosen Diätschinderei sollte er lieber seinen Energieumsatz erhöhen. Die Krux: Der Alltag verlangt uns zuwenig an körperlicher Anstrengung ab. Wir brauchen mehr Bewegung, mehr Sport und Spiel, mehr Sex. Menschen, die sich regelmäßig bewegen, sind nicht nur optimistischer, streßresistenter und gesünder. Sie sind auch schlanker und sehen besser aus. Ausdauertraining ist ein echter Fettkiller. Regelmäßiges langsames (!) Laufen, Wandern, Radfahren und Schwimmen sind ideal, um die Fettdepots abzuschmelzen. Diäten sind dabei nur hinderlich. Es genügt, sich einigermaßen vernünftig zu ernähren und im täglichen Speiseplan ein wenig Fett einzusparen. Mit der langsam sich aufbauenden Muskelmasse verbraucht der Körper auch mehr Energie.

Sport- und Bewegungsprogramme haben nur einen Nachteil: Sie zeigen erst mit der Zeit Erfolg und müssen dauerhaft ins Leben integriert werden – dreimal die Woche. Häufigster Fehler ist eine falsche Belastung. Wer mit hochrotem Kopf losrennt, nimmt garantiert nicht ab. Der Fettstoffwechsel springt nicht bei hohen, sondern bei niedrigen, aber lange andauernden Belastungen an. Wer es ernst meint, braucht keine Waage, sondern eine Pulsuhr. Die optimale Pulsfrequenz zum Abnehmen errechnet sich aus der Formel 220 minus Lebensalter und davon 60 Prozent. Schon bei zügigem Spazierengehen erreicht man sie. „Vernünftiges Abnehmen ist wie eine Sprache lernen“, sagt der britische Ernährungsforscher James Garrow, „jeder ist dazu in der Lage, aber es kostet Zeit und Anstrengung.“ Wem das zuviel ist, dem bleibt nur eins: die friedliche Koexistenz mit dem Bauchspeck.