„Die hätten wir ins Meer getrieben“

Auf der Kanareninsel El Hierro soll trotz Protesten ein Raketenschießplatz gebaut werden  ■ Von Reimar Paul

Nebel und Regenwolken wabern durch die Wälder. Die Berggipfel sind im dichten Dunst kaum mehr zu erkennen. Im Norden und Westen, zum offenen Atlantik hin, bläst ein heftiger Sturm. Brüllend werfen sich die Wellen gegen die schroffe Felsküste. Meterhoch spritzt die Gischt. El Hierro im Vorfrühling – wenig einladend, fast abweisend präsentiert sich die kleinste und westlichste der Kanarischen Inseln auf den ersten Blick.

Im zweiten Jahrhundert zog der griechische Naturforscher Ptolemäus für sein Atlaswerk den Nullmeridian durch El Hierro, die Westspitze des Eilandes markierte lange Zeit das Ende der Welt. Die Insel liegt bis heute am Rand, und das nicht nur geographisch. Alle Versuche der Verantwortlichen, die Abwanderung der einheimischen Bevölkerung nach Südamerika, auf das spanische Festland, nach Gran Canaria oder Teneriffa aufzuhalten, scheiterten bislang. Mit knapp achttausend ist die Einwohnerzahl heute nur unwesentlich höher als um die Jahrhundertwende. Und bis auf die Monate Juli und August, wenn die gestreßten Freunde und Verwandten von den großen Nachbarinseln zur Sommerfrische einfliegen, stehen 70 bis 80 Prozent der knapp siebenhundert Gästebetten leer.

Nur einer von 1.600 ausländischen Kanarenurlaubern wagt den Flug oder die Überfahrt nach El Hierro. Strände, Hotels mit Swimmingpools und Diskotheken gibt es hier nämlich nicht. Wer darauf verzichten kann und sich auch von Regen und Wind nicht vergraulen läßt, wird mit einer weitgehend unberührten Natur und teilweise spektakulären Landschaften entschädigt. Bizarre Lava-Formationen wechseln mit lichten Kiefernhainen, auf den Bergwiesen blühen seltene Pflanzen und Kräuter. Nicht weniger als achtzehn „endemische Spezies – Arten, die ausschließlich auf El Hierro wachsen – haben Botaniker kürzlich gezählt. Aus der Tierwelt ragen im wahrsten Wortsinn die Lagartos Gigantes hervor, bis zu siebzig Zentimeter lange Riesenechsen, die auf ein paar Felsen an der Westküste der Evolution getrotzt haben. Nachdem ihr Bestand durch Jäger, Sammler und unachtsame Wanderer drastisch reduziert wurde, haben Naturschützer jetzt eine Aufzuchtstation eingerichtet. Gut dreihundert dieser Tiere leben in dem Eidechsenzoo.

San Andrés ist ein kleines Bergdorf im Norden der Insel. Wie jedes Jahr sind auch an diesem 7. Dezember alle Einwohner des Ortes seit dem frühen Morgen auf den Beinen. Zuerst waren sie in der Kirche, jetzt ziehen die Leute mit Trommeln und Flöten, in bunten Gewändern und mit geschminkten Gesichtern durch die engen Gassen. Vorneweg laufen vier Männer mit einer Sänfte, auf der eine aus Holz geschnitzte Figur thront, die Figur des Schutzheiligen San Andrés. Der heilige Andreas soll in grauer Vorzeit den Ort vor Hungersnöten und Piraten bewahrt haben. Plötzlich mischen sich Sprechchöre in die religiösen Gesänge, junge Männer halten Plakate in die Höhe. „No a la lanzadera“, steht da, „Nein zur Abschußrampe“.

Die spanische Zentralregierung will auf El Hierro einen richtigen Weltraumbahnhof bauen. Bereits am Anfang des nächsten Jahrhunderts plant die staatliche Raumfahrtbehörde Inta, sollen Raketen vom Typ Argo und Capricornio I Forschungs- und Beobachtungssatelliten in den Himmel schießen. Aufgeflogen waren die bis dahin geheimgehaltenen Pläne vor einem Jahr, als findige Herrenos im 97er Haushalt 40 Millionen Mark für bauvorbereitende Maßnahmen entdeckten.

Geld soll es regnen über El Hierro, wenn die Lanzadera in Betrieb ist, versprechen Politiker in Madrid und die Gutachter von der US-Firma Bechtel National Inc. Die Insel bekäme neue Straßen, einen neuen Hafen. Und sogar einen neuen Flugplatz. Und mit jedem Start wäre die Insel weltweit in den Fernsehnachrichten.

Ins Fernsehen wollen die Leute von der Insel aber nicht. Vor allem wollen sie keine Raketenrampe. Das machen sie unmißverständlich klar bei den allabendlichen Diskussionsrunden in der Bar Isleta im Dorf La Restinga. Die Schenke wird von dem Fischer Manolo und seiner Frau Anita betrieben. Manolo ist nicht irgend jemand. Vor zehn Jahren hatten er und drei seiner Kollegen Schiffbruch erlitten. Acht Tage lang wurden sie vermißt, acht Tage trieben sie mit ihrem beschädigten Boot auf dem Meer, ohne Lebensmittel außer einem Kanister Wasser und ein paar Birnen, bis ein nordamerikanisches Frachtschiff sie aufnahm und nach Philadelphia brachte. Damals haben die Herrenos drei Tage und drei Nächte lang die wunderbare Rettung gefeiert.

Jetzt haben sie Angst, daß der Raketentreibstoff die Atmosphäre über ihrer Insel mit Salzsäure und anderen Giften verseucht. Saurer Regen könnte die einzigartige Vegetation der Insel zerstören und die wenigen Touristen vertreiben. „Wer will denn noch seinen Urlaub in einem ruhigen Bauernhaus verbringen, wenn dauernd Lastwagen über die Insel donnern und jeden Monat eine Rakete in die Luft steigt?“ fragt Ana Gómez von der Bürgerinitiative, und in der Kneipe La Isleta nicken sie mit den Köpfen.

Gómez spricht auch von der Möglichkeit schwerer Unfälle. Die werden selbst von den Bechtel- Gutachtern nicht ausgeschlossen. Bei jedem 25. Start, heißt es in der Studie, könnten Situationen entstehen, die Menschen gefährden. Um solche Katastrophen möglichst auszuschließen, müßten bei Starts mehrere Orte komplett evakuiert werden, La Restinga wäre auch darunter.

Und daß die Abschußrampe nur zivilen Zwecken dienen soll, wie offiziell immer wieder beteuert wird, das glauben die Raketengegner sowieso nicht. Ist der Generaldirektor der Inta, José Rico, nicht gleichzeitig General und Staatssekretär im Verteidigungsministerium? Und bekleiden nicht mehr als ein Dutzend leitende Inta- Angestellte hohe Offiziersränge? Das Versprechen wirtschaftlichen Fortschritts, der mit dem Bau der Rampe auf der Insel Einzug halten soll, zieht auch bei den Lokalpolitikern nicht. „Bislang haben hier alle mehr oder weniger dasselbe Einkommen“, macht Javier Morelos, „Wirtschaftsminister“ der Inselregierung, die Gegenrechnung auf. „Durch so eine Raketenbasis würde es hier plötzlich Arme und Reiche geben, und das führt zu sozialen Spannungen.“

Inselregierung und Bürgerinitiative organisieren den Protest gegen die Rampe denn auch gemeinsam. Viertausend Menschen, die halbe Inselbevölkerung, zogen kurz nach Bekanntwerden der Raketenpläne im Januar durch die Straßen des kleinen Inselhauptstädtchens Valverde. Im Mai bestiegen tausend Herrenos die Fähre nach Teneriffa, wo die mit relativ weitgehenden Befugnissen ausgestattete Regionalregierung und das Kanaren-Parlament ihren Sitz haben. Die Demonstranten hatten gehofft, daß sich noch ein paar hundert Leute anschließen würden beim Zug durch Santa Cruz. Daß dann tatsächlich zwanzigtausend Menschen aller Altersschichten singend und Parolen rufend durch die Stadt zogen, konnten selbst die Organisatoren von der Comisión Malpaso nicht fassen. Die größte Demo in der Geschichte der Kanaren! Und sehr ungewöhnlich für das Inselleben.

Als im August verdächtige Schiffe mit Baggern und Planierraupen an der Südwestspitze El Hierros vor Anker gingen, blockierten binnen wenigen Stunden Tausende die möglichen Anlegestellen. Viele Demonstranten hatten Steine in den Händen. „Die hätten wir zurück ins Meer getrieben“, erzählen die Fischer aus der Bar Isleta, die damals dabei waren, und ihre Augen blitzen dabei. Am Ende war es falscher Alarm. Die Kähne, unterwegs von den Kapverdischen Inseln zu den Azoren, hatten im Windschatten der Insel nur einen Sturm abwarten wollen.

Die meisten der auf El Hierro lebenden Aussteiger aus anderen Ländern beteiligen sich am Widerstand. Auch rund fünfzig Deutsche haben sich auf der Insel niedergelassen, als Ananaszüchter, Kunsthandwerker oder Gastwirte. „Wir sind dabei, wenn es darum geht, Transparente zu malen oder Plakate aufzuhängen“, sagt die Münchnerin Susanne, die in dem Örtchen Frontera ein kleines Apartmenthaus betreibt.

Offenbar unter dem Eindruck der Proteste hat die Zentralregierung die Entscheidung über den Bau der Rampe zunächst an das Parlament der Kanaren weitergegeben. Um diese Entscheidung zu beeinflussen, sammeln Aktivisten der Bürgerinitiative auf allen Inseln des Archipels seit Beginn des Winters fleißig Unterschriften bei Touristen. Die Urlauber, das jedenfalls wünschen sich die Raketengegner, sollen mit ihrer Abwanderung in andere Feriendomizile drohen, falls die Lanzadera tatsächlich gebaut wird.