Asthmatische Kurzatmigkeit

Lebenslanges Lernen wird immer wichtiger. Mittlerweile ist Weiterbildung der größte Bildungsbereich. Doch es hapert an Qualität und Konzepten
■ Von Matthias Steube

„Es ist keine Seltenheit, daß Menschen bis zu dreimal im Leben einen neuen Beruf erlernen“, sagt Bildungsminister Rüttgers und schließt messerscharf: „Deshalb wird lebenslanges Lernen so wichtig wie das tägliche Brot.“ Hört man aus den Worten des Zukunftsministers nicht Kritik an der Lernbereitschaft der Bundesbürger?

Eigentlich hat er keinen Grund zur Bürgerschelte. Die Deutschen zwischen 19 und 64 Jahren sind nicht lernfaul: 42 Prozent nutzen Möglichkeiten zur Weiterbildung. Rund 100 bis 120 Milliarden Mark werden jährlich in die berufliche Weiterbildung investiert.

Das hört sich gut an. Ein Blick auf Statistiken zeigt aber: Je höher die Schulbildung, je besser der Berufsabschluß, desto stärker werden Angebote zur Weiterqualifizierung genutzt. Ungelernte, Beschäftigte mit niedriger Schulbildung sind viel seltener in Maßnahmen zu finden. Für sie aber wäre Fortbildung besonders wichtig.

Daß nicht noch mehr Interessierte die Schulbank oder den Einschaltknopf für multimediale Lernprogramme drücken, hat seine Gründe. Wer sich fit machen will, hat oft einige Hürden zu nehmen. Die Zahl der Schulungsangebote ist so groß, die Inhalte sind von so unterschiedlicher Qualität, der Zugang so ungeregelt, daß es selbst einem kleinen Studium gleichkommt, in dem Dschungel den Überblick zu behalten.

In Betrieben geht das noch einfach. Hier wird auch am häufigsten geackert. So kamen 35 Prozent der Angebote 1994 von Arbeitgebern. Dann erst kommen private Träger (19 Prozent) und staatliche Institutionen (16 Prozent). „Training on the job“, das Lernen in der Arbeitssituation, steht für die Unternehmen eindeutig im Vordergrund. So hat es auch Richard S. erlebt. Sein Unternehmen hatte zur Umstellung auf neue Software einen Trainer des Herstellers einfliegen lassen. Richard S. gehörte zu den Auserwählten, die an der Einführung teilnehmen durften. Sein Wissen hat er dann am Arbeitsplatz an die Kollegen weitergereicht. Nach seinen didaktischen Fähigkeiten wurde nicht gefragt.

Qualität in der betrieblichen Weiterbildung — ein Zufallsprodukt? Schlimmer: Die Bildungsarbeit in deutschen Unternehmen sei katastrophal schlecht, verkündete jüngst unwidersprochen Klaus W. Döring, Erziehungswissenschaftler an der Technischen Universität Berlin. Selbst Weiterbildungsfachleute seien oft nicht für eine Lehrtätigkeit ausgebildet, so das Ergebnis einer Studie zum Thema.

Betriebe der privaten gewerblichen Wirtschaft haben 1995 in Deutschland 34 Milliarden Mark in Weiterbildung investiert. Ob das Geld wirklich gut angelegt ist, wenn, wie Döring kritisiert, eine schlechte Weiterbildung gar nicht als solche wahrgenommen werde?

Die Frage der Qualifikation des Lehrpersonals stellt sich nicht nur in Betrieben. Beispiel Volkshochschulen: Fast der gesamte Weiterbildungsbetrieb wird von KursleiterInnen auf Honorarbasis getragen. 100.000 HauptberuflerInnen stehen etwa eine Million Honorarkräfte gegenüber. Und deren Situation ist nicht rosig: fehlende soziale Absicherung etwa, Befristung, fehlende Fortbildungsmöglichkeiten. „In keinem anderen Bildungssektor ist der Professionalisierungsgrad so gering, die Situation des Personals so schlecht wie im Weiterbildungsbereich“, bemängelt Ursula Herdt vom GEW- Bundesvorstand in Frankfurt.

Das hat Folgen. Denn es gibt die Tendenz, Weiterbildung zur Privatangelegenheit zu erklären. Mehr als die Hälfte aller Unternehmen erwarten für die Zukunft steigenden Bedarf fürs Lernen in der Arbeitssituation. Lehrgänge, die etwa persönliche Karrierechancen verbessern, werden immer seltener unterstützt. Hier müssen die Beschäftigten in die eigene Tasche greifen, oft recht tief. 10,7 Milliarden Mark haben Privatpersonen im Jahr 1995 für ihre berufliche Weiterbildung ausgegeben. Wenn schon das Kostenrisiko auf sie abgewälzt wird, sollten sie doch wenigstens eine Sicherheit in puncto Qualität haben. Unsicherheitsfaktoren gibt es ohnehin genug im Weiterbildungszirkus. Welches Wissen soll sich der Mensch lebensbegleitend aneignen? Droht der neuen Wissensgesellschaft nicht eine asthmatische Kurzatmigkeit, wenn sich Weiterbildung immer stärker nur an kurzfristigen, unternehmensspezifischen Anforderungen orientiert?

Richard S. wollte mit der Schulung auch seinen Arbeitsplatz sicherer machen. Kurze Zeit später jedoch bekam er den dezenten Hinweis, vielleicht mal nach Alternativen Ausschau zu halten. Was war passiert? Die Software lieferte „Rationalisierungseffekte“. Richard S. hat sich und seinen Arbeitsplatz schulbuchmäßig überflüssig gemacht.

Wenn Lernen nicht staatlich verordnete Jugendbewegung bleiben soll, muß auch Bildungspolitik ihre Hausaufgaben machen. Wie kann man glaubhaft zu lebenslangem Lernen motivieren, wenn gleichzeitig 1997 die AFG-Mittel für Fortbildung und Umschulung um 1,8 Milliarden Mark gekürzt wurden? Wie steht es um einen immer enger gefaßten Weiterbildungsbegriff, wenn gleichzeitig die gesellschaftlichen Veränderungen immer größere Kreise ziehen? Mutieren nicht die Rüttgerschen drei Berufe zu ordinären Jobs, weil Erstausbildung und Weiterbildung nicht aufeinander aufbauen, weil es an einem System von Fortbildungsberufen fehlt, das den Arbeitnehmern die Vielfalt der 30.000 Erwerbsberufe in Deutschland erst richtig erschließen könnte?

Lebenslanges Lernen ist zwar so wichtig wie das tägliche Brot, sollte aber auch dazu beitragen, sich die Brötchen verdienen zu können. Ansonsten bleibt es ein Schlagwort und vernebelt den wirklichen Zustand der Weiterbildung.