Eine Familientherapeutin muß auf Kunden warten

■ Pokalsieger VfB Stuttgart interpretiert das 2:1 über Lok Moskau begierig als Neuanfang

Stuttgart (taz) – So viel Spott und Häme war denn doch des Guten zuviel. Die Stuttgarter Zeitung hatte am Tag des Europapokal- Halbfinales des VfB Stuttgart gegen Lokomotive Moskau die Frage gestellt, wie denn der „Mannschaft“ überhaupt noch zu helfen sei angesichts der Querelen der letzten Wochen. Und Antwort gefunden bei einer ortsansässigen Familientherapeutin. Die hatte prompt so manchen Ratschlag zur Konfliktbewältigung parat.

Doch beim VfB ist der Mann selbst: Stunden vor dem Anpfiff begriffen Bobic, Verlaat und Wohlfahrt ihre Rolle als „Führungsspieler“ (Präsident Mayer- Vorfelder), der Spielerrat bat die Kollegen zur Aussprache. „Wir haben uns nicht die Köpfe eingeschlagen“, berichtete Fredi Bobic später. Dafür appelliert, daß „wir Spieler auf dem Platz Verantwortung übernehmen müssen“. Haben sie denn auch getan, vornehmlich in der zweiten Halbzeit, und dieses Europacup-Halbfinalhinspiel durch Tore von Akpoborie (42.) und Bobic (94.) nach der Moskauer Führung durch Dschanaschia (23.) noch mit 2:1 gewonnen.

Das Ergebnis läßt freilich wenig Schlüsse zu über die Wahrscheinlichkeit eines Stuttgarter Einzugs ins Cupsieger-Finale. Lokomotiv- Führer Yuri Syomin jedenfalls teilte trotz der Niederlage gelassen mit, daß sich „die Ausgangssituation nicht verändert hat“. Die Stimmung beim VfB aber schon, weil ein Sieg schon ein mächtiges Erfolgserlebnis darstellt derzeit. Nimmermüde frohlockten Spieler, Trainer und Präsident deshalb, daß sie doch imstande seien, einen Rückstand aufzuholen und sogar die Schlußminute gewinnbringend zu nutzen. Reihum sprudelten sie Wörter hervor, die nach den dürftigen Vorstellungen in der Bundesliga allenfalls als Flehen über die Lippen gekommen waren: Leidenschaft zigfach, Charakter und Moral vor allem, Neuanfang unentwegt. „Das haben wir bewiesen“, meinte Trainer Joachim Löw.

Ob dem Burgfrieden zu trauen ist? Auch der jüngste Auftritt gab wenig Aufschluß über die Problemzonen, die die hausgemachte Krise des Pokalsiegers überhaupt erst schufen. Krassimir Balakow und Murat Yakin etwa blieben den Beweis schuldig, daß sie nach ihrem Gerangel um die Machtanteile im Mittelfeld irgendwann einmal wieder miteinander können. Auch die Trainerdiskussion wird so schnell nicht verstummen. Doch von den Mißtönen wollte Fredi Bobic nichts mehr hören: „Wir müssen nach vorne schauen, was war, ist nicht mehr.“ Vorne gastiert morgen der 1. FC Köln im Neckarstadion, vorne stehen der Uefa- Cup-Platz und die europäische Finalteilnahme auf dem Spiel. Bobic pochte geradezu darauf, „das gewonnene Selbstvertrauen in die Bundesliga mitzunehmen“. Der Mittelstürmer ist auch gleich sein eigener Beweis für dieses Selbstbewußtsein. „Wir müssen uns vor keiner Mannschaft verstecken“, sagte er.

Gemach, nach gerade einmal einer wenigstens soliden Partie. Was, wenn die „mannschaftliche Geschlossenheit“ (Bobic) wieder zu bersten droht? Kein Problem: Dann muß man eben doch auf fachfrauliche Hilfe zurückgreifen – die Nummer der Familientherapeutin steht sicherlich im Telefonbuch. Thilo Knott

Tor: 1:0 Zauli (16.)

VfB Stuttgart: Wohlfahrt – Spanring, Verlaat, Berthold – Haber, Yakin (69. Lisztes), Balakow, Poschner, Stojkovski (46. Hagner) – Akpoborie, Bobic

Lokomotive Moskau: Nigmatullin – Tscherewtschenko, Tschugainow, Arifullin – Solomatin, Charlatschow, Drozdow, Kossolapow (53. Maminow), Gurenko – Garas (53. Smirnow), Dschanaschia -Zuschauer: 14.500

Tore: 0:1 Dschanaschia (23.), 1:1 Akpoborie (43.), 2:1 Bobic (90.)

2. Halbfinale: AC Vicenza - Chelsea 1:0