Unglaubliche Leichtigkeit

■ Anmut und Lebensfreude für die 90er: Pina Bauschs neues Tanzstück "Masurca Fogo"

Aus der Distanz scheinen die Menschen einander nähergerückt. In ihrem neuen Stück „Masurca Fogo“ schaut Pina Bausch dem Leben mit einer Gelassenheit zu, als säße sie selbst oben auf dem Felsen, der das Bühnenbild beherrscht. Vorbei ist die Zeit der erbitterten Kämpfe, der emotionalen Verkrümmungen, der Deformation durch gesellschaftliche Regeln und der gegenseitigen Ausbeutung der Geschlechter. Wo noch von der zwanghaften Selbstdarstellung und dem zerstörerischen Verdrängungswettbewerb erzählt wird, der den Stoff früherer Stücke lieferte, geschieht dies mit Witz – als hervorgekramte Erinnerung, die man jetzt milde belächeln kann.

Dennoch passiert viel in diesen zwei Stunden: „Masurca Fogo“ beginnt wie ein Wirbelwind und endet mit einer großen Umarmung zwischen dem Tanz und Bildern der Natur. Die jungen Männer, die immer wieder über den Felsen herabgestürmt kommen, brechen in ungestüme, athletische Soli aus. Sie tanzen mit der großen Ernsthaftigkeit und Konzentration von jemandem, der das Leben jetzt zu packen glaubt, und bleiben dabei doch ganz bei sich. Auch in den Tänzen der Frauen werden die Bewegungen nicht hinausgeschleudert. Weich umschmeicheln die Hände den Körper. In konzentrischen Wellen und Spiralen vergrößern sie ihren Spielraum und vereinnahmen seine Kraft.

Zwischen den Soli, deren vielfarbige Stränge sich im Laufe des Abends immer dichter verknüpfen, fliegen die Bilder, jagen, verfolgen, überstürzen sich die Szenen: Da gibt es eine Frau, die laut ins Mikro schluchzt, Trost suchend den Kopf an der Brust eines Tänzers birgt und von diesem dabei samt Stuhl herumgewirbelt wird, bis sie wie auf einem Karussell fliegt. Eine andere will sich immerzu von großer Höhe herabstürzen, klettert auf Männerschultern, läßt sich fallen, und immer müssen alle zu ihrer Rettung herbeieilen. Doch diese Verzweiflungsattacken gehen für diesmal gut aus. Sie gleichen der Versicherung, daß die anderen noch da sind.

Dazwischen Miniaturen: Kleine Liebes- und Freundschaftsdienste steigern sich zu einer übermütigen Revue kurz vor dem Ende des ersten Teils: Küsse wandeln sich in Duschen für erhitzte Tänzerinnen. Ein kleiner Mann bittet einen großen um Hilfe, damit er seine ihn überragende Freundin küssen kann. Selbst Spülen und Abtrocknen wird zu einer intimen Aktion, wenn die Spülende in der Wanne sitzt und die Teller ihrem Partner herausreicht. Was sich in einem langen Zusammenleben an Ritualen einschleift, zieht hier blitzartig vorbei. Am Ende der Wascharie schlittern die Tänzer bäuchlings durch Pfützen, ein Walroß watschelt vorbei, längst sind wir aus dem Haus, raus der Stadt, draußen am Strand gelandet. Soviel Lebenslust ist schier unglaublich.

Doch nicht nur die erinnerungstrunkenen Klänge von Fado, Tango und altem Jazz rücken diesen Überschuß an Energie in eine Ferne, die ihn stets anmutig, nie albern erscheinen läßt. Vor allem im zweiten Teil werden Filmbilder, die sich im Bühnenraum wie an den Wänden einer Höhle brechen, über die Tanzenden geblendet. Sie lassen die Tänzer klein werden, die mit ihren blitzschnellen Sprints plötzlich ameisengleich zwischen den langen Beinen von Flamingos wuseln. Zwischen Film, Tanz und Musik verschieben sich die Geschwindigkeiten. Wie die Wellen des Meeres, dessen Rauschen am Ende einige Tänze begleitet, sich überholen und unterspülen, greifen Szenenfolgen, Soli und Ensembleszenen ineinander. Das Treiben der Menschen mit ihren Sehnsüchten und Einsamkeiten ist schließlich nur eine der vielen Schriften, in denen das Leben sich äußert.

Der Tanz, der lange Zeit ausgedünnt war in den Stücken von Pina Bausch, wird damit von einem Code für ganz spezielle Gelegenheiten wieder zu einem allgemeineren Medium der Mitteilungen vom einfachen Dasein. Oft wird aus dem simultanen Nebeneinander unvermutet ein Miteinander: In einer wunderschönen Sequenz baut das großenteils sehr junge Ensemble in Windeseile eine Hütte aus herbeigeschlepptem Strandgut und tanzt dann miteinander in dieser improvisierten Bude. Da glaubt man das erste Mal, daß dies ein wunderschöner Schluß sei. Aber den langsamen Reigen der Paare, der sich anschließt und von großer Nähe und Vertrautheit erzählt, möchte man ebensowenig missen, wie die drei Nixen, die an die Felsen gelehnt das Schwimmen üben.

Wiederholungen dienen im Tanztheater von Pina Bausch nicht nur als Stilprinzip, um die Zeit zu strukturieren, sondern auch als Spiegel von Werk zu Werk, der den Zuschauer nicht zuletzt mit dem Verstreichen der eigenen Zeit konfrontiert. Die Spiegelungen und Anknüpfungen beginnen mit dem Bühnenbild von Peter Pabst, der mit der Felslandschaft wieder ein Element der Natur in den Bühnenraum gebracht hat. Auch szenische Details kehren wieder, wie die Selbstgefährdung im Sturz, die Ausstaffierung mit Luftballons, der Gang über den Korso der Blicke. Aber die Chiffren des Scheiterns oder der Angst vor der Einsamkeit kippen für diesmal kaum ins Aggressive. Die Choreographin verzichtet in „Masurca Fogo“ auf das Wechselbad der Gefühle zugunsten einer durchgehenden Stimmung. Dennoch behauptet der versöhnliche Ton von „Masurca Fogo“ keine endgültige Aussage, die distanzierte Perspektive ist nicht für immer gesichert.

Das Stück, das als Koproduktion mit der Expo Lissabon entstand und dort im Mai aufgeführt wird, verführt durch seine große Leichtigkeit. Das liegt vielleicht auch daran, daß das Wuppertaler Tanztheater, das im Oktober sein 25jähriges Bestehen feiern kann, seine Zuschauer heute nicht mehr wie noch vor Jahren erziehen und überzeugen muß, daß Aktionen wie Gehen, Rennen, Fallen, Rutschen nicht weniger zum Tanz gehören als stilisierte Schritte und Drehungen. In den achtziger Jahren mußten sich die Choreographin und ihre Tänzer noch vielmehr damit auseinandersetzen, wie das Sozialverhalten den Körper geprägt und definiert hat. In den Stücken der neunziger Jahre hat das so gewonnene Material wieder eine Geschmeidigkeit und oft auch artistisch beeindruckende Durchformung erhalten, die seine Herkunft fast vergessen läßt. Katrin Bettina Müller

„Masurca Fogo“. Schauspielhaus Wuppertal, Tel.: 0202-5634444