„Arbeitsschutz ist der Schwanz an der Ratte“

Für Bauarbeiter ist Berlin ein gefährlicher Ort. Obwohl die Zahl der tödlichen Unfälle zunimmt, setzt das Landesamt für Arbeitsschutz weniger Mitarbeiter im Bereich Baustellensicherheit ein. Gewerkschaftler kritisiert Termin- und Kostendruck auf Großbaustellen  ■ Von Sabine am Orde

„Da haben aber zwei etwas zu lange gearbeitet“, sagt Norbert Hartmann und blättert in dem schwarzen Ordner, der hier Schleusenbuch heißt. „5:05“ steht zweimal untereinander in der Spalte Arbeitszeit. Fünf Stunden und fünf Minuten waren zwei Arbeiter ganz vorn im Tunnel, wo sich die riesige Schildvortriebmaschine in 21 Meter Tiefe durch die Erde bohrt – damit irgendwann die U-Bahn Linie 5 auch hier am Reichstag und am Brandenburger Tor entlangfahren kann. Vorn wird unter Druckluft gearbeitet, die das Grundwasser weghält und das Erdreich stützt. Und weil das gesundheitlich enorm belastend ist, darf unter diesem Druck im Normalfall maximal vierdreiviertel Stunden gearbeitet werden – Schleusengänge zwecks Druckausgleich inklusive. „Wir hatten kürzlich ein kleines technisches Problem“, begründet Bauleiter Joachim Holler die Regelverletzung.

Norbert Hartmann ist Aufsichtsbeamter des Landesamtes für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit (LAGetSi), das es in dieser Konstellation erst seit Anfang des Jahres gibt. Hartmann ist froh, daß er seitdem Druckluftexperte ist und sich deshalb weniger mit dem Hochbau abmühen muß. „Das sind alles Fachleute hier“, sagt er und blickt sich zufrieden im Tunnel um, „das ist verhältnismäßig sicher“.

Doch genau das gilt für viele andere Baustellen nicht: In keiner anderen Branche gibt es so viele Unfälle am Arbeitsplatz. Obwohl die Anzahl der tödlichen Arbeitsunfälle bundesweit einen absoluten Tiefstand erreicht hat, stieg sie auf Berlins Baustellen wieder an: 19 Menschen sind hier nach Angaben des LAGetSi im vergangenen Jahr tödlich verunglückt, 1996 gab es 15, 1995 22 Tote. Häufigste Ursache: Abstürze. „Die Hälfte der Unfälle könnte verhindert werden“, urteilt Rolf Schaper von der Bau-Berufsgenossenschaft, „wenn die Schutzbestimmungen eingehalten würden.“

23 Mitarbeiter des Landesamtes waren bislang im Bereich Bausicherheit eingesetzt, um – unter anderem – genau dafür zu sorgen. Seit der Umstrukturierung zu Jahresbeginn sind es nur noch 18. Und nur zehn von ihnen sind zuständig für reine Bausicherheit. „Damit ist eine Überwachung so wie früher nicht mehr möglich“, kritisiert Sybille Lange, Hartmanns Fachgruppenleiterin.

In ihrer Fachgruppe setzt man nun auf „Programmarbeit“, wie die Schwerpunktsetzung nach dem neuen Konzept des LAGetSis heißt. „Wir haben uns die Unfallentwicklung der letzten Jahre angeschaut und drei Schwachstellen festgestellt: Gerüste, Abbruchmaßnahmen und Schalungssysteme.“ In diesen Bereichen werde nun offensiv kontrolliert. Ob das reicht? „Ich habe mir diese Situation nicht ausgesucht“, sagt Lange ausweichend.

Die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) äußert ihre Skepsis offener: „Ich befürchte, daß sich die neue Struktur auf die Überprüfung und Prävention eher schlecht auswirkt“, kritisiert Rainer Knerler, IG-BAU- Geschäftsführer.

Doch gerade auf langfristige Prävention setzt das neue LAGetSi-Konzept: Nicht Überwachung, sondern Beratung sei das zentrale Kriterium des modernen Arbeitsschutzes, betont Robert Rath, der Sprecher des neuen Landesamtes: „Wir wollen nicht zuschlagen und bestrafen für Vergangenes, sondern vorbeugend wirken für Zukünftiges.“ Auch die Bau-Berufsgenossenschaft sieht durchaus noch Beratungsbedarf: „Viele Unternehmen gehen blauäugig an ihre Projekte heran, da mangelt es an Planung im Vorfeld“, sagt Mitarbeiter Rolf Schaper. Fachgruppenleiterin Lange findet Beratung wichtig, betont aber die ordnungsbehördliche Seite ihrer Arbeit: „Die Bauherren sind doch qualifiziert und wissen, was sie tun müssen.“

LAGetSi-Mitarbeiterin Lange geht wie Knerler davon aus, daß sich die Situation auf den Baustellen noch verschärft, auch wenn sich dieser Trend nicht in Zahlen messen läßt. „Es wird immer gefährlicher, als Bauarbeiter in Berlin zu arbeiten“, sagt der Gewerkschafter Knerler. Der Kosten- und Termindruck seien enorm hoch: Es sei „gängige Praxis“, daß Generalunternehmer Preise kalkulieren, von denen sie wissen, daß sie diese mit ihren eigenen Leuten nicht halten können. „Dann wird an Subunternehmen vergeben, die billiger sind.“ Spätestens beim fünften oder sechsten „Sub“ mangele es an ausgebildeten Arbeitskräften, Know-how und technischer Ausstattung. „Dann wird statt mit einer richtigen Einrüstung mit einem Provisorium gearbeitet, auf Arbeitsschuhe oder gutes Baumaterial aus Kostengründen verzichtet“, so Knerler: „Wir sehen doch tagtäglich, wie die Sicherheitsvorschriften mit Füßen getreten werden.“ Bausicherheitsexpertin Lange teilt diese Einschätzung: „Arbeitsschutz ist der Schwanz an der Ratte“, sagt sie. Hinzu komme – wissen beide ExpertInnen – ein Sprachproblem, weil die Arbeiter aus unterschiedlichen Ländern stammen und nicht alle des Deutschen mächtig sind. Knerler: „Das macht Teamarbeit schwierig.“ Knerler und Lange hoffen auf die EU-Baustellenrichtlinie, die in der Bundesrepublik aber noch nicht gilt.

Im U-Bahn-Tunnel am Reichstag gibt es, sagt LAGetSi-Mitarbeiter Hartmann auf dem Weg aus dem Tunnel, diese Schwierigkeiten nicht. Wieder guckt der Aufsichtsbeamte mal hierhin, mal dorthin, überprüft mit zwei Handgriffen, ob Schläuche und Druckminderer an den Sauerstoff- und Acetylenflaschen in Ordnung sind, mit einem Blick, ob es Sauerstoffmasken in der Druckluftschleuse gibt.

Auf dem „Laufsteg“ aus Holzbohlen, der am Rande des Tunnels nach draußen führt, stolpert Holler, der Bauleiter. „Sehen Sie“, sagt Hartmann, „die Stolperstellen hier müssen weg.“ Die hat er längst auf seinem kleinen Block notiert. Dort sind auch die abgelaufenen Bereitschaftslisten der Druckluftärzte und der fehlende Schlauchkasten am Feuerlöscher vermerkt. Die muß Holler nun besorgen, spätestens bis zur nächsten Begehung Anfang Mai. „Das machen wir einvernehmlich und ohne großen Druck“, sagt Prüfer Hartmann, „dann geht es nämlich viel schneller“.