Vordemokratischer Tonfall

■ betr.: „Kindestötung als Aufsatz thema“, taz vom 31.3. 98

„Die Linke muß erkennen, daß die Westintegration Deutschlands die nachgeholte bürgerliche Revolution der deutschen Geschichte ist.“ Diesen schönen Satz Joschka Fischers fand ich im Spiegel-Interview am 30.3. 98. Einen Tag später zeigt die taz mit ihrem Beitrag, wie weit man in Deutschland noch von diesem Ziel entfernt ist, wenn man unter „Westintegration“ nicht nur die Mitgliedschaft in der Nato versteht, sondern die Zugehörigkeit zu einer Wertegemeinschaft, in der man auch im Geiste Voltaires leidenschaftlich für die Freiheit der Rede und des Andersdenkenden kämpft.

Statt dessen finden wir, wie in Heinrich Manns „Der Untertan“, echten deutschen Geist am Werke: Wir suchen etwas, über das wir uns empören können, um auszugrenzen, anzuschwärzen, die Schulaufsicht einzuschalten und zu bestrafen – wenn man uns läßt. Der Kreisdechant Bernward Mezger und der Altenaer Grünen-Fraktionssprecher Oliver Held haben – getreu der am Tag zuvor in der taz beschworenen neuen Einheitsfront von Grün und Schwarz – wieder einmal etwas für das behinderte Kind getan: Sie fanden es einen „unerträglichen Skandal“, daß ein Lehrer in einer 9. Klasse es gewagt hat, einen Text von Peter Singer im Ethikunterricht zu verwenden. Singers ethische Aussagen knüpfen „nahtlos an die nationalsozialistische Ideologie von der Vernichtung ,lebensunwerten Lebens‘ an“. Das stimmt zwar nicht, und wenn die Herren lesen könnten, wüßten sie es auch, doch wer mit solch windigen Formulierungen den Juden frech zum Nazi föhnt, will ja gar nicht die Wahrheit wissen, sondern sich im Geiste Diederich Heßlings zum Primus der Gutmenschen profilieren (und vielleicht noch ein paar Punkte auf der F-Skala machen).

[...] Doch ich habe es aufgegeben, mit solchen Leuten zu diskutieren. In der gesamten westlichen Welt – außer im deutschsprachigen Bereich – ist Singer ein stinknormaler Utilitarist (und übrigens bei den australischen Grünen in der Anti-AKW-Bewegung tätig). Der Theologe Dr. Hans Zirker (Duisburg) – falls der Herr Dechant eine katholische Quelle bevorzugen sollte – sieht Singer so: „Im Interesse einer universalisierbaren Ethik verzichtet Singer ausdrücklich auf irgendwelche religiösen Voraussetzungen. Dies ist ein prinzipiell sinnvoller, angesichts unserer weltanschaulich pluralen Welt sogar dringlicher Ansatz, solange damit nicht die sittliche Vernunft schlechthin reklamiert wird. Ich erkenne in Singers Buch zum einen ein nachdrückliches Bemühen um Klarheit und Folgerichtigkeit des Denkens, zum anderen ein intensives ethisches Engagement. In diesen beiden Hinsichten erscheint mir das Buch auch dann achtenswert, wenn ich im einzelnen manche – teilweise tatkräftige – Vorbehalte habe.“ Wie weit sind wir schon gekommen, daß ein Katholik uns daran erinnern muß, wie wichtig die Freiheit der akademischen Rede ist?

Als langjähriger taz-Leser ist mir durchaus bekannt, daß dieses Blatt nicht nur mich und andere Intellektuelle als Zielgruppe hat und deshalb auch Journalisten beschäftigt, die den moralischen Unterschied zur Klassenpetze noch nicht ganz begriffen haben. Dennoch glaube ich mich zu erinnern, daß einer der Gründe, genau diese Zeitung zu gründen, der war, daß die Pflicht zu umfassender Information höher zu bewerten ist, als die Gleichschaltung durch einen noch so edlen gesellschaftlichen Konsens. In diesem Zusammenhang scheint es niemandem aufzufallen, daß die jeweiligen Inhalte (Kaisertreue, Demokraten gegen Terrorismus, Rechte der Behinderten) austauschbar bleiben – nicht jedoch der vordemokratische Tonfall, mit dem man in diesem Land Dissidenten übers Maul fährt.

Doch das ist ja das Schöne an der taz: Man kann darin Wiglaf Droste lesen – und gleichzeitig all die Gründe in ihr finden, warum er dieses Land haßt. Bernhard Becker-Braun, Essen