■ Demokratie unter Druck (7): Die Demokratie wird erpreßbar, wenn sie die Fähigkeit verliert, Prioritäten zu setzen und sie zu verteidigen
: Objekt anonymer Kräfte

Die Krise der Demokratie wird auf eine „objektive“ gesellschaftliche und wirtschaftliche Dynamik zurückgeführt: von der Globalisierung und Macht der Konzerne bis zum Niedergang des Nationalstaats, vom Verschwinden der Klassengesellschaft bis zum Geschlechterkampf, Hedonismus und Werteverfall – sie alle stehen im Verzeichnis der Demokratiekiller.

Der Kampf um Gleichheit gebiert neue Ungleichheiten, die Gerechtigkeit für die einen setzt Ungerechtigkeit für die anderen voraus. Nach dem Ende des Ost- West-Konflikts ist die antikommunistische Rhetorik obsolet geworden. Nun kann man besser hören, wie der Motor der Politik arbeitet: Machtkampf und Machterhaltung sowie Sicherung der Einflußsphären gehören zum Wesen der Demokratie ebenso wie der Diktatur. Es kommt lediglich auf die Institutionen und Prozeduren an. Diese werden zunehmend ausgehöhlt.

Die repräsentative Demokratie vertritt nur die Interessen der Repräsentanten und deren Klientel, die nicht die Mehrheit der Gesellschaft darstellen. In Deutschland hat der Kampf um Besitzstände zur Blockade der institutionellen Reformen geführt. Dem Normalbürger bleibt das Wahlrecht, das ihm wenig nutzt, weil er die Politik damit nicht beeinflussen kann. Andererseits tritt an die Stelle der Klassen mit ihrem Verhältnis zu den Produktionsmitteln das Dualmodell von Gewinnern und Verlierern. Auch die Gewinnerschicht ist alles andere als homogen. Die gesellschaftliche Differenzierung hat Hunderte Milieus geschaffen, deren Lebensnischen sich nicht mehr kreuzen. Früher ging man davon aus, daß diese Vielfalt die Gesellschaft stabilisiere und das Konfliktpotential mindere. Vielleicht war es auch so, solange zumindest eine gemeinsame Perspektive erhalten blieb, die des Bürgers.

Nun zeichnet sich das gesellschaftliche Leben durch wachsende Militanz der Randgruppen auf der einen Seite und die Erpreßbarkeit der demokratischen Institutionen auf der anderen ab. Die Demokratie wird erpreßbar, wenn sie die Fähigkeit verliert, Prioritäten zu setzen und sie glaubwürdig zu verteidigen. Die entscheidende Rolle spielt dabei die Unterdrückung der Meinungsfreiheit durch die Gesinnungswächter.

Angst, wegen abweichender Meinungen als ausländer-, juden-, frauen-, ostdeutschenfeindlich ausgegrenzt zu werden, führt zur Tabuisierung fälliger Diskurse, was das Bild der Realität nachhaltig verzerrt. So sind deutsche Intellektuelle an den Rückschlägen bei der Integration der Ausländer nicht unschuldig. Sie haben sie in ihrer mangelnden Bereitschaft zur Integration durch das Multikulti- Palaver bestätigt und die Diskussion über die Gestaltung der Integration blockiert. Die Einwanderer, die nicht der Demokratie zuliebe nach Europa kommen, empfinden diese als schwach und lachen sich über das liberale Spielzeug Multikulturalismus kaputt.

Um stark zu sein, muß man den Mut haben, sich mit der Wirklichkeit anstelle mit ideologischen Wunschbildern auseinanderzusetzen. Zu leicht läßt sich die Gesellschaft erpressen. Die Milieus und Randgruppen, schreibt Sibylle Tönnies, genießen einen größeren Bonus als die „Mitte der Gesellschaft“ (taz vom 13.3.). Früher dachte man, der Kampf der Gruppeninteressen sei der Motor der Demokratie. Es gibt aber immer mehr Interessen, die die Gesellschaft nur ausbeuten und von der Demokratie zehren, ohne in sie zu investieren. Erinnert sei nur an das Kruzifix-Urteil. Welche Leidenschaften wurden dadurch ausgelöst! Merkwürdig war nur, daß das Recht auf Ausleben (in diesem Fall) anthroposophischer Gesinnung nicht in den privaten Waldorf-Einrichtungen, sondern im öffentlichen Raum verlangt wurde.

Es ist erschreckend leicht geworden, irgendwelche noch so absurden Forderungen aufzustellen, die die demokratische Maschinerie sofort auf Hochtouren laufen lassen. Die wachsende Möglichkeit, sich auf Kosten des Ganzen zu profilieren und davon zu profitieren, kann als Symptom der Schwäche gedeutet werden. Die wirkliche Herausforderung für die Demokratie kommt von jenen Gruppen, die sie ausnutzen, um sie umzukippen. Die wachsende Militanz der Neonazi-Szene in Ostdeutschland führt das Fehlen des Bürgers, des eigentlichen Trägers der Demokratie, deutlich vor Augen.

Eine weitere Gefahr für die Demokratie heißt Globalisierung. Daß auf der EU-Ebene, um bei Europa zu bleiben, die Entscheidungen undemokratisch getroffen werden, ist allgemein bekannt. Die Aushöhlung des demokratischen Prozesses kommt zum Ausdruck in der Verlagerung der Entscheidungen von der nationalstaatlichen auf die europäische Ebene, die bürokratisch-exekutiv und nicht demokratisch legitimiert ist. Weder der Euro noch die Nato- Osterweiterung standen in Europa wirklich zur Diskussion. Insbesondere letztere, die auf Kosten der Steuerzahler vollzogen wird, wurde den Bürgern regelrecht übergestülpt.

Freilich sind viele Prozesse so komplex geworden, daß sie nur von Fachleuten beurteilt und auch so manipuliert werden können, daß sie von den Wählern akzeptiert werden. Auf diese Weise sind in der EU Grauzonen entstanden, wo Korruption und mangelnde Verantwortung anonymer Beamter die Kriminalisierung von Wirtschaft und Politik begünstigen. Daß Belgien unsere Zukunft ist, mögen viele nicht hören wollen, aber der erschreckende Verfall der Brüsseler politischen Klasse und die ebenso demütigende Hilflosigkeit der belgischen Gesellschaft ist ein europäisches Menetekel.

Man wünscht sich als Bürger mehr Mut zur Unabhängigkeit und mehr aufrechte Fragestellungen. Aber zur Erfahrung der letzten Zeit gehört das Gefühl, das Objekt anonymer Kräfte zu sein, zuzusehen und nicht handeln zu können. Ein zutiefst unbürgerliches Gefühl. Vielleicht sind wir an dem Zeitpunkt angelangt, an dem wir feststellen müssen: Demokratie als System ist relativ erfolgreich gewesen, aber sie ist ein historisch vorübergehendes Phänomen. Denn sie ist ständig gefährdet durch sich selbst. Ihre Freiräume werden genutzt, um sie unter Druck zu setzen und auszuhöhlen. Wenn sie nicht da ist, kämpft man um sie und ist bereit, dafür zu sterben. Niemand ist allerdings bereit, die vorhandene Demokratie nur zu verteidigen, von sterben ganz zu schweigen. Eine seltsame Dialektik.

Eigentlich ist Demokratie eine schöne Sache. Schade, daß sie gerade jetzt im Begriff zu sein scheint abzudanken. Wenn die „anonymen Kräfte“ es sich nicht doch noch anders überlegen und sie noch ein wenig mit uns verweilen lassen. Sonja Margolina