Manchmal nerven sie sogar sich selbst

Sie sind anstrengend, dreist und chaotisch: Eine Berliner Arbeitsloseninitiative schlägt Rabatz – und mancher hätte sich „französische Verhältnisse“ irgendwie pflegeleichter erträumt. Zum Alo-Aktionstag ein Gruppenbild  ■ von Vera Gaserow

Berlin (taz) – Weiß jemand, wo es heute hingeht? Keine Ahnung. Finger hoch: Wer ist fürs Sozialamt? Mensch, Günter, halt doch mal den Rand! Zum Sozialamt geht's also. Quatsch, zum Verwaltungsgericht. Was sollen wir da denn? Na, wegen Günter und seinem Info-Tisch, den er nicht mehr aufstellen darf vorm Rathaus. Was? Doch nicht zum Gericht? Gleich zum Bezirksamt? Günters verbotenen Info-Stand wieder aufbauen? Nun laßt uns endlich los! Scheißwetter draußen. Gerade mal fünfzehn Leute. Flauer Tag, dieser Donnerstag.

Sie treffen sich jeden Donnerstag im Haus der Demokratie in der Berliner Friedrichstraße, und sie nerven – manchmal sich selbst, das liegt am eigenen Chaos, meistens aber die anderen, und genau das ist geplant. Sie rücken Gerhard Schröder auf die Bude, wenn der im Hotel Inter Conti auftritt, sie gehen dem Arbeitsamtschef auf den Keks, wenn der seine Monatsstatistik vorstellt. Sie stören behagliche Ruhe und melden sich zu Wort, wo Schweigen zum ungeschriebenen Verhaltenskodex gehört. Seit Januar probt das „Aktionsbündnis Arbeitslosenprotest“ den Aufstand, und wo immer die fünfzigköpfige, bunt zusammengewürfelte Aktivistentruppe unvermittelt auftaucht, wird es laut. Das ist störend und provoziert zwiespältige Reaktionen. Denn wenn aus fünf Millionen Arbeitslosen plötzlich Menschen mit konkreten Forderungen werden, kann abstrakte Solidarität rasch in genervten Unmut umschlagen.

Das Zirkuszelt der Familie Sperling in Prenzlauer Berg war ausverkauft, als die Aktivisten des Aktonsbündnisses Ende März die Zirkus-Kasse besetzten. Gestaffelt nach Einkommen wurden fortan eigene Eintrittsgelder erhoben. Einige Zuschauer hielten das für einen gelungenen Gag, passend zu dem Mann, den sie an diesem Abend sehen wollten: Christoph Schlingensief, vorsitzender Regisseur von „Chance 2000“, der mediengerecht inszenierten Ein-Mann- Partei aller Entrechteten und Armen. Das Publikum versprach sich einen heiteren Abend. Parteichef Schlingensief ist immer für Überraschungen gut, nur diese war dann doch nicht eingeplant. Der Kulturguru zog sich beleidigt zurück, kritzelte mißgelaunt Unverständliches an eine Tafel und überließ dem „Aktionsbündnis der Arbeitslosen“ die ohnehin schon vereinnahmte, gut 2.000 Mark schwere Abendkasse. Als die Arbeitslosen dann selbst in die Manege stiegen, um ihre Forderungen publik zu machen, fühlte sich ein Teil des Publikums um die Performance geprellt. „Hört auf mit dem Scheiß!“ „Wer Arbeit sucht, der findet auch welche!“ Ohne künstlerische Verfremdung à la Schlingensief war das Thema Massenarbeitslosigkeit plötzlich nicht mehr unterhaltsam.

Auch die Herren von der Deutschen Bank fanden es gar nicht witzig, daß das „Aktionsbündis“ ihre Werbesprüche für bare Münze nahm. „Arbeit für Berlin“ hatte das Geldinstitut großflächig versprochen, und die arbeitslosen Aktivisten zogen zu zwanzig in die Bankzentrale, sich diese Arbeit zu holen. Doch die vergrätzten Banker wollten den ungebetenen Besuchern nicht einmal diesen Bewerbungsversuch zur Vorlage beim Arbeitsamt attestieren.

Die taz, im Umgang mit Besetzern schon eher erfahren, spendierte immerhin einen ausgemusterten Computer, als das Aktionsbündnis die Redaktionsräume belagerte, und auch das italienische Nobelrestaurant im Erdgeschoß des taz-Domizils reagierte souverän auf die Heimsuchung durch die Truppe. Nach ersten „Hunger, Hunger“-Sprechchören servierte das Personal rasch Suppe und Wasser für alle – und erhielt für die noble Geste ein Trinkgeld.

Zugegeben: Sie sind anstrengend, sie sind dreist und chaotisch, sie haben keine durchdachten Forderungen und keine klaren Ziele. „Französische Verhältnisse“ hätte sich mancher Beobachter irgendwie pflegeleichter erträumt. Aber sie tun etwas. Sie machen mobil, sie melden sich überall zu Wort, und allein das ist ein äußerst mühsames Unterfangen.

Denn wie organisiert man basisdemokratisch eine disparate Gruppe, wo jeder willkommen ist, wenn er nur arbeitslos ist? Wo die einen das Recht auf Arbeit fordern, die andern sich „Glückliche Arbeitslose“ nennen und die Nichtarbeit proklamieren? Zwanzig Leute waren es am Anfang, die sich zum Aktionsbündnis trafen. Seit dem ersten bundesweiten Aktionstag im Februar platzt der Versammlungsraum allwöchentlich aus den Nähten, aber die Gesichter wechseln, und die Neuen stellen die ewig alten Fragen. Nur mit Mühe hat man sich auf bunt zusammengewürfelte Essentials einigen können – so berechtigt wie utopisch gleichermaßen: Rücknahme der Meldekontrollen des Arbeitsamts, 1.500 Mark Mindesteinkommen plus Warmmiete, 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, Nulltarif für Arbeitslose in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Donnerstag früh, ehrlich gesagt ist es eher Mittag: „Leute, jetzt aber los!“ Draußen schüttet es noch immer. In der U-Bahn verteilen sie wacker Flugblätter: Peter, der arbeitslose Abiturient, der allmonatlich beim Sozialamt zwanzig sinnlose Bewerbungsversuche nachweisen muß, Günter, der pensionierte Bautechniker mit der Marktschreierstimme und den zotigen Witzen, Ingo, der Betriebswirt, vom Arbeitsamt bereits durch alle Mühlen von Fort- und Weiterbildungen gedreht, Anna, die Kosmetikerin und Tierversuchsgegnerin, die für 1.500 Mark brutto in einem Schönheitsstudio arbeiten soll, Roland, der arbeitslose Industriekaufmann, der es sich „selber schuldig ist, daß ich protestiere“.

Stumme Gesichter studieren das Flugblatt, das die Aktivisten ihnen in die Hände drücken: „Bundesweiter Arbeitslosenprotest am 7. April. Gemeinsam demonstrieren macht Mut!“ „Ich komme mit ein paar Kumpels“, verspricht ein Mitdreißiger und wird – wie die meisten – heute doch wieder zu Hause geblieben sein.