Streit in Huchting

■ Staatsanwalt: „Die Verhältnisse in der alten Stadt Rom waren geordneter“

Neben dem Angeklagten liegt eine dicke Akte. Die roten Deckel vermögen den Schriftverkehr kaum zu bezwingen. Der 49jährige Elektrotechniker studiert einige Briefe, die er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hat. Er ist wegen Körperverletzung vom Amtsgericht zu einer Geldstrafe von 4.000 Mark verurteilt worden und hat gegen das Urteil Berufung beim Landgericht eingelegt. Ab und an hebt er die Augen und wirft dem Nebenkläger, einem schneidigen Herrn in den Siebzigern, finstere Blicke zu. Es ist sein Nachbar. Das heißt, es ist der Nachbar seiner Freundin, bei der der Angeklagte seit zehn Jahren ein- und ausgeht.

Seitdem haben die übrigen Mieter des sechs-Parteien-Hauses in Huchtingen nach eigenen Angaben nichts mehr zu lachen. Immer wenn sie die Fenster im Treppenhaus aufkippen, um zu lüften, schließt der Angeklagte, der nicht Mieter des Hauses ist, „im Auftrag seiner Freundin“die Fenster wieder. Das Paar fürchtet, daß die Heizkosten im wahrsten Sinne des Wortes zum Fenster hinauswehen. „Sollte ich Sie beim Fensterzumachen erwischen, hacke ich Ihnen die Hände ab“, habe eines Tages ein anonymer Zettel am Fensterkreuz geklebt, behauptet der Angeklagte. Nicht er sei gewalttätig, sondern die Nachbarn.

Im Februar des vergangenen Jahres eskalierte der Streit. Die Maler hatten die Wohnungstüren gestrichen und die Mieter gebeten, die Fenster wegen des Farbgeruchs offenzulassen. Der Angeklagte schließt die Fenster. Der Nebenkläger will die Fenster wieder öffnen. Der Angeklagte schlägt zu. Ein Faustschlag trifft den alten Mann in die Leber, ein zweiter hinterläßt ein etwa sechs Zentimeter großes Hämatom auf dem Unterarm. Das Amtsgericht verurteilt den Angeklagten in erster Instanz zu einer Geldstrafe von 4.000 Mark.

Ein ungerechtes Urteil, findet der Angeklagte. „Ich hab' dem Mann nichts getan“, beteuert er. Es habe geregnet, deshalb habe er die Fenster wieder geschlossen, verteidigt er sich. Außerdem habe er den Nebenkläger nicht geschlagen, sondern nur dessen Schläge abgewehrt. Daß eine Zeugin die Schläge beobachtet hat, beeindruckt ihn nicht. „Das ist ein abgekartetes Spiel.“„Das ist keine Märchenstunde, sondern eine Berufungsverhandlung“, erwidert der Nebenkläger. Er habe eine Wirbelverletzung und würde sich hüten, jemanden anzugreifen. „Das mit dem Wetter stimmt nicht“, sagt er. Sein Gesichtsausdruck verrät, daß er einen Trumpf in der Tasche hat. Über das Wetter in Huchtingen am 26. Februar 1997 zwischen elf und 18 Uhr habe er ein Gutachten des Deutschen Wetterdienstes eingeholt, sagt der Nebenkläger nicht ohne Stolz. „Es gab keinen Regen.“

Bis heute würde er manchmal noch Schmerzen in der Magengegend verspüren, gibt er weiter zu Protokoll. Sogar einer Computertomographie hätte er sich unterzogen, um dem Schmerz auf die Spur zu kommen, klagt der Mann. Eine organische Ursache hätten die Ärzte allerdings nicht feststellen können. „Es kommt ganz darauf an, was ich esse“, führt er aus. „Sie sind doch aber gar nicht in den Magen geschlagen worden“, entgegnet der Richter und kommt zu dem Schluß, daß die Schmerzen psychosomatisch sein könnten.

In der Verhandlungspause sickern noch mehr Details über das Leben im Huchtinger Mietshaus durch. Gegen die Freundin des Angeklagten ist ein Strafverfahren anhängig, weil sie ihre Nachbarin angegriffen haben soll. Die Gewoba, der das Haus gehört, hat dem Angeklagten Hausverbot erteilt. Ein Nachbar hat einen anderen mit einer Videokamera gefilmt und festgehalten, wie der Mann auf die Kamera einschlug, als er die Filmerei entdeckte.

Im alten Rom hätten geordnetere Verhältnisse geherrscht, sagt der Staatsanwalt und fordert, die Berufung zu verwerfen. „Einen alten Mann schlägt man nicht“, findet auch der Richter und bestätigt das Urteil des Amtsgerichts. Nach vier Stunden und 35 Minuten scheint der Streit um die geöffneten Fenster beendet. Auf dem Flur wirft der nun zum zweiten Mal wegen Körperverletzung verurteilte Elektrotechniker seinem Nachbarn einen vielsagenden Blick zu. „Ich gehe in die Revision“, zischt er. kes