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: Demokratische Umerziehungslager

„Wenn du entzünden willst, mußt du brennen!“ (Nietzsche). Ende Februar zeigte der SFB den neuen Dokumentarfilm „Die Bewerbung“ von Harun Farocki. Er handelt von Qualifizierung und Fortbildung: von der konkreten Umsetzung aktueller Arbeitsmarktpolitik – als Fitneßtraining für die Dienstleistungsgesellschaft. Lernen, sich zu verkaufen. Ein bis dahin eher antikapitalistisch eingestellter Kursteilnehmer meinte: „Es ist wie das Erlernen einer neuen Sprache!“ Bei einer Schilderung seiner „Stärken“ in einem Einstellungsgespräch sollte er nicht „nur zwei Jahre Berufserfahrung“ sagen: „Lassen Sie das ,nur‘ weg!“ Auch Worte wie „eigentlich“ würden den positiv-optimistischen Eindruck bloß relativieren.

Berühmt wurde bereits der U-Bahn-Abfertiger der BVG, der sich – auch nach einem Höflichkeitstraining – weigerte, „zurückbleiben – bitte!“ zu sagen und entlassen wurde. „Wir mußten ein Exempel statuieren“, so der BVG-Sprecher. Umgekehrt verließen jetzt zwei Buchhändlerinnen, eine war früher Betriebsrätin, das Mediencenter von Dussmann am Bahnhof Friedrichstraße. Ihnen ging das ewige Lächeln-Müssen auf den Wecker.

Die seit der Wende aus dem Boden geschossenen Umschulungsstätten sind Umerziehungseinrichtungen, denen jedoch die Camouflage selbst nicht fremd ist. So lassen z.B. die Bibliotheken ihre Bestände gerade von Sozialhilfeempfängerinnen auf Computer erfassen. Die Frauen bekommen für diese täglich achtstündige Zwangsarbeit 200 bis 300 Mark mehr, als zuvor ihre Sozialhilfe betrug. Das „Projekt“ wird – als Fortbildungskurs – aus EU- Mitteln finanziert, ist aber nur dumpfes Abtippen der Buchtitel. Eine Teilnehmerin – von den Zeugen Jehovas – weigerte sich, die Stundenabrechnung zu unterschreiben: „Meine Religion verbietet mir das Lügen!“

Auch eine Weiterbildungseinrichtung für arbeitslose Drucker und Setzer scheint ein Potemkinsches Dorf zu sein. Die Schule ist ein „Leonardo-Projekt“, d.h. wird über die Zentralstelle für Arbeitsvermittlung finanziert. Die Kursteilnehmer sollen in vier Publishing-Programmen fit gemacht werden. Der Unterricht besteht in der Hauptsache aus einem allgemeinbildenden Teil – im Gegensatz zu ähnlichen Kursen anderer Einrichtungen, wo die Praxisanteile überwiegen. Aus dem vorangegangenen Lehrgang fanden von 24 Teilnehmern bisher nur drei eine Anstellung. Die jetzigen Teilnehmer führen dies auf die zu geringe Übung zurück: „Ich muß mich jetzt z.B. um ein Praktikum kümmern, kann aber noch gar nichts, und bin deswegen viel zu unsicher, um mich richtig zu bewerben“, meint eine Teilnehmerin. „Laufend müssen wir schriftliche Arbeiten schreiben. Das Unterrichtsniveau ist zu niedrig: die meisten drehen Däumchen – langweilen sich. Wir müssen aber die Zeit absitzen oder uns abstruse Entschuldigen ausdenken: krank schreiben lassen zum Beispiel.“

Einige Umschüler schrieben einen Beschwerdebrief an die Kursleitung, anschließend gaben ihnen die meisten Lehrer auch recht, meinten jedoch: für eine Kurskorrektur sei es zu spät. Ein Jahr dauert die Maßnahme: täglich acht Stunden, jeweils eine Stunde wird geübt. Als sich eine Kontrollkommission ansagte, verfiel man auf die alte Potemkinsche List – und wählte ein halbes Dutzend „Musterschüler“ aus, die bereits mit Programmerfahrung in den Kurs gekommen waren. Der Rest des Lehrgangs wurde – „ohne Lehrer“ – auf „Exkursion“ geschickt.

Die Dialektik von Anpassung und Widerstand durchdringt das ganze „System“. Das wurde bereits beim Oberhausener Erlebniseinkaufscenter deutlich. Bei der Eröffnung sagte Ministerpräsident Rau: „Glückauf Centro!“ In angloamerikanischen Kursen machte man dort zuvor aus Verkäufern Animateure, die statt Kunden Gäste bedienen. Die Amis schulen uns auch gerne umsonst: Am Kiosk im Flughafen Tegel schmiß neulich ein Kalifornier der Verkäuferin eine Zeitung an den Kopf – mit der Bemerkung: „You must learn to be polite!“ Die Amis können einfach nicht kapieren, daß hierzulande Charakter das Gegenteil einer guten Performance ist – und sich sogar lohnt! Helmut Höge