Die Avantgarde der Archivare protestiert

■ Die Anpassung des Urheberrechts an das Internet stößt auf den Widerstand der amerikanischen Spitzenuniversitäten. Ihre Lobby argumentiert mit den Werten der humanistischen Bildung gegen die Interes

Als im Dezember 1996 in Genf die sogenannte Diplomatische Konferenz der World Intellectual Property Organization (WIPO) zu Ende ging, konnten die Vertreter der Europäischen Union mit einer Erfolgsmeldung nach Hause gehen. Es war ihnen gelungen, amerikanische Forderungen nach einer weitgehenden Anpassung des Urheberrechts an die Bedingungen des Internet abzuwehren. Der am 20. Dezember formulierte Vertrag über „gewisse Fragen, den Schutz literarischer und künstlerischer Werke betreffend“ schreibt im wesentlichen das geltende Recht fort. Autoren von Texten, Filmen, Musikstücken und anderen Werken sollen auch im Internet ihr geistiges Eigentum behalten – ein Recht, das sie freilich kaum je selber nutzen. Das Urheberrecht ist in der Praxis ein Recht der Verleger an die Autoren, die ihre Rechte verkaufen müssen, wenn sie ihre Werke publizieren wollen.

Das Internet bietet ihnen aber die technische Möglichkeit an, auf direkterem Wege mögliche Leser und Konsumenten zu erreichen. Die Warnungen der Medienindustrie vor einer drohenden Aushöhlung des Urheberrechts sind deshalb auch nach der Genfer Konferenz nicht verstummt. Die EU arbeitet noch an eigenen Richtlinien zur Umsetzung des WIPO-Vertrages, in den USA jedoch formiert sich, hierzulande bislang kaum beachtet, hochkarätiger Widerstand gegen den Sieg der Traditionalisten. Eine akademische Lobby unter Führung des Getty-Instituts versucht, eine möglichst liberale Lesart des Vertrages durchzusetzen.

Die „National Initiative for a Networked Cultural Heritage“ (NINCH) wurde zwar schon 1993 gegründet. Neben dem damals neuen Archivsystem des Getty-Instituts („The Getty Art History Information Program“) beteiligten sich das altehrwürdige „American Council of Learned Societies“ (1919 gegründet) und Computerfachleute der „Coalition for Networked Information“ an den ersten Denkspielen über eine digitale Erschließung des gesamten menschlichen Wissens.

Ein esoterischer Club avantgardistischer Archivare, nach dem Genfer Vertrag jedoch schlug er Alarm in der akademischen Szene der USA. Inzwischen gehören ihm beinahe alle renommierten Universitäten an, jeweils vertreten durch ihre Bibliotheken. Die Liste glänzt mit Namen wie der „Library of Congress“, den „MIT Libraries“ und den „Harvard University Libraries“. Entsprechend gemäßigt ist die Tonlage der Publikationen, in der Sache vertritt die NINCH jedoch radikale Positionen. „Die NINCH glaubt“, heißt es in der Grundsatzerklärung, „daß ein vernetztes kulturelles Erbe ein entschieden öffentliches Gut ist. Die kulturelle Gemeinschaft sollte es pflegen, um es so reich und vollständig wie möglich zu erhalten, und die Gelegenheit nutzen, es zum lebendigen Herzen einer sich entwickelnden digitalen Infrastruktur zu machen.“

Nicht ganz das, was Medienkonzerne hören wollen, wenn es um das digitale Geschäft geht. Nur international anerkannte Urheberrechte spielen Geld in die Kassen, für die NINCH jedoch paßt der nur im amerikanischen Recht verankerte Begriff des „Fair Use“ besser zur neuen Freiheit des Internet. Er erlaubt schon heute beinahe jede Nutzung von Dokumenten zu nichtkommerziellen Zwecken. Allein damit könne das in der Präambel des Genfer Vertrages erwähnte „Gleichgewicht“ zwischen den Rechten der Autoren und Konsumenten im Computerzeitalter gewahrt werden, argumentiert die NINCH. Die Paragraphen des Vertrages selbst bevorzugten einseitig die Produzenten geistiger Werke, nicht zuletzt im Fall der von der WIPO erstmals geschützten Software: Die NINCH meint sogar, es sei legitim, Computerprogramme aus der Maschinensprache für den „fairen Gebrauch“ zurückzuübersetzen.

Was nach wüstem Hacker-Sozialismus klingt, ist für die NINCH nichts weiter als eine Folgerung aus den grundkonservativen Werten der humanistischen Bildung und der Gemeinschaft wohlmeinender, besonnener Bürger. Gut gezielt auf Senatoren, die eben noch gegen die Unmoral aus dem Netz Sturm liefen, warnt die Lobby der Unis heute, daß der WIPO- Vertrag zu einer Verödung des Schulwesens führe, dessen Zukunft in der digitalen Vernetzung liege. Solche Erklärungen sind kaum zu ignorieren. Zwei Gesetzentwürfe über die Umsetzung des WIPO-Vertrages liegen in Washington zur Beratung vor, beinahe jede Woche schreiben Mitglieder der NINCH neue Papiere dazu, die umgehend unter www- ninch.cni.org online veröffentlicht werden. Kaum vorstellbar deshalb, daß die Bestimmungen der WIPO in vollem Umfang auf die Bestände der amerikanischen Bibliotheken angewandt werden. Und wenn sie dort durchlöchert sind, ist der Genfer Vertrag gescheitert – die EU kann sich auf den nächsten Handelsstreit mit den USA einrichten, diesmal auf einem Gebiet, in dem die meisten Brüsseler Bürokraten noch schiere Analphabeten sind. Niklaus Hablützel

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