■ 30 Jahre Studentenbewegung: Hat sich ihr Anspruch von einst, radikal anders sein zu wollen, in gut betuchter Koketterie aufgelöst?
: Kleiner großer Bruder

Echte Feinde sind besser als falsche Freunde. Vielen Dank also, liebe Redaktion, für die Einladung zu 30 Jahre 68er – ein Geburtstagsartikel. Das nennt man Tapferkeit vor dem Freunde. Ich fühle mich sehr bewegt. Vielleicht beruht dieser Vorschlag der taz aber auch nur auf Sentimentalität, weil jetzt bei den alten 68ern und mir die mittleren Jahre anfangen. Und die Phase der Kamerad-weißt-du-noch-Erzählungen. Außerdem paßt unsere Geschichte in die Passionszeit: Die Darstellung des Leidens als Zyklus in mehreren Szenen.

Also: Die 68er und ihre Wirkungen. Oder der Schoß ist fruchtbar noch oder so ähnlich. Zu Beginn dieser Karwoche plagen die Freunde vom Spiegel schon auf dem Titel ihre Leser mit der Frage, „warum immer mehr Kinder kriminell werden“. Und beantwortet mit ihrer These („Die Eltern lernen von ihren Eltern nicht mehr, was Kinder brauchen“) auch die Frage nach den Wirkungen der 68er. Genauso auch die FAZ, wenn sie am gleichen Tag über die nicht unkomische Feststellung berichtet, daß „die Rechtschreibfähigkeit der Deutschen sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verschlechtert“ habe („doppelt so viele Fehler wie vor 30 Jahren“), was „im Vergleich zu einer Ausgangsuntersuchung aus dem Jahr 1968“ sich herausgestellt habe. Und mit der Langzeitwirkung der Apo hat natürlich auch die Mitteilung der Süddeutschen Zeitung von diesem Wochenanfang zu tun, daß das am Donnerstag davor vorgestellte „Zukunftsprogramm der CDU“, via Ökosteuer „in Abstimmung mit den europäischen Partnern“ den Benzinpreis zu erhöhen, zu einem erleichterten Lob von Josef Fischer und Jürgen Trittin für die verantwortlichen Christdemokraten geführt hat.

Die 68er und ihre Erfolge: Die Erwähnung beider Namen als immerhin aussichtsreichste Kandidaten für die Regierung des wiedervereinigten Deutschlands zeigt die seismischen Veränderungen, welche die Politikerklasse Westdeutschlands in den letzten 30 Jahren erfahren hat: Beide zunächst Pflasterstrandkämpfer der 68er. Aus dem Frankfurter Anarchistenbiotop der eine. Der andere vom Mescalero-Asta aus Göttingen (taz-Kenner wissen: die mit der „klammheimlichen Freude“ bei der Ermordung von Generalbundesanwalt Buback). Über 20 Jahre hatten diese Symbolfiguren aus der damaligen Zeit die Rechtfertigung für ihren Außenseiterstatus in die Zukunftswelt einer sozialistischen Revolution projiziert. Wie Wladimir und Estragon, die beiden Tramps aus Samuel Becketts „Warten auf Godot“. Haben in langen basisgruppenbewegten Jahren das Chaos unausgegorener Möglichkeiten und Gedankenverbindungen durchlebt und auf Erfüllung gewartet. Bis eine veränderte SPD und das deutsche Verhältniswahlrecht sie in die Landesregierungen von Niedersachsen und Hessen gespült hatten. Deutschland, du Land der ungeahnten politischen Aufstiege.

So wurden sie richtig normale Politiker, was zum Streit führte, ob das System oder sie selbst als 68er sich am meisten geändert hätten. Jedenfalls fühlen sie sich in ihrer neu-alten Rolle des täglichen Erklärens, Dementierens und Stirnefaltens kannibalisch wohl. Und über die Art einer Unterstützung von Blauhelmeinsätzen der UNO in Irgendwo („peace keeping oder peace making“) können sie schon räsonieren, als wären sie von der Jungen Union.

Die 68er – unser neues Establishment. Was spätestens, wenn der erste Grüne Verfassungsschutz-Präsident wird, natürlich auch die Frage aufdrängt, wann alles, was nicht links ist, zur neuen Apo der Zukunft werden muß. Ihr Anspruch von einst, radikal anders zu sein auch in Äußerlichkeiten, hat sich jedenfalls in gut betuchter Koketterie aufgelöst. Nichts an Josef Fischers kragenlosem Oberhemd erinnert mehr an Rudi Dutschkes Ringelpullover, den Gretchen noch gestrickt hatte. Sondern an das makellos krawattenfreie Styling eines Herbert von Karajan. Geblieben sind nur die künstlichen Vornamen, die sie sich in den Jahren des großen Andersseins zugelegt hatten: Halo, Rezzo, Joschka.

Unsereiner, der damals zu den Contras gehörte, schätzte die Bewegung immer so ein, daß hinter dem meisten, was sie sagten, hirnverbrannter Blödsinn stand: Von der marxistischen Kapitalismuskritik bis zum Lobgesang auf Kuba, Jugoslawien und Nord- Vietnam. Und heute wissen wir, daß zu den Apogryphen der Apo- Generationengeschichte auch gehört, daß in den 70er Jahren einige 10.000 meist gebildete jüngere Leute sich dem kommunistischen Sektenwesen zuwandten, sogar für einen verhängnisvollen Augenblick den Ideen von Stalin und Pol Pot applaudierten. Allerdings war dieser „kurze Flirt mit den Roten Khmer“, wie wir im vergangenen Jahr von dem einstigen K-Gruppen-Aktivisten Gerd Koenen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erfahren konnten, „so etwas wie der Todeskuß, den wir vielleicht unbewußt herbeigesehnt hatten“. „Neben den Fotografien der Todgeweihten von Tuol Slang, deren angstgeweitete Blicke einen nicht loslassen, verfolgt mich seither das lächelnde Gesicht dieses charismatischen Mörders.“ Es ist also doch nicht so, daß nach dem Zusammenbruch ihrer Idee nur die Jugend des Dritten Reiches Trauerarbeit geleistet hätte.

Die 68er als gewesene Revolutionäre. Ihre Sendung war die Veränderung des geistigen Deutschlands. Aber, obwohl hochbegabte Wortkünstler, nicht durch das Mittel des gedruckten Buches, sondern durch eine Kette von öffentlichen Provokationen. Also Hervorrufungen. Stürmer und Dränger. Die Stimmungs-Parallele zu deutschen Generationsideen früherer Jahrzehnte – man denke an den als 19jährigen bei einer anderen Revolte erschossenen Studenten und Pfarrerssohn Horst Wessel – oder früherer Jahrhunderte, als die Leiden des Jungen Werther literarisch veredelt wurden, sind offensichtlich: Gegen das Hausvaterleben, für eine neue Zeit.

Ob es stimmt, daß der Wertewandel von 68 unumkehrbar ist, steht dahin. Andauernde Indoktrinierung, da Abreißen von Tradition, eine offensichtliche Infantilisierung und das Auseinanderbrechen von jungen und alten Generationen müssen nicht das letzte Stadium in der Geschichte der Deutschen gewesen sein. Wenn es so wäre, läge die „Schuld“ wohl weniger bei den 68ern, sondern bei jenem Teil der bürgerlichen Klasse, der sich gegenüber dieser unguten Entwicklung auf die Strategie des Nach-dem-Munde-Schweigens festgelegt hat.

Aber dies ist kein Problem mehr nur der taz und ihrer 68er. Sondern von uns allen. Peter Gauweiler