Analyse
: Neue Meinungsvielfalt

■ Pekinger Frühling ohne Dissidenten

Wann hat das Warten ein Ende? 18 Jahre lang hofften Menschenrechtsaktivisten auf die Freilassung Wei Jingshengs, bis Pekings Behörden Chinas Top-Dissidenten im November ins Exil schickten. Seither wartet man auf Wang Dan, den zu elf Jahren Haft verurteilten Studentenführer von 1989. Nun kündigten zwar US-Diplomaten im Vorfeld des für Ende Juni geplanten Clinton-Besuchs in Peking Wangs Befreiung an. Dann wird man um Staatsanwalt Shen Liangqing bangen, der vergangene Woche zu zwei Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde, weil er mit Menschenrechtlern in Hongkong verkehrte. Warten auf die Freiheit in China erscheint manchem immer noch wie das Warten auf Godot.

Auf den ersten Blick folgerichtig ist deshalb die Botschaft von Mike Jendrzejczyk von Human Rights Watch: Die Entlassungen einiger Gefangener sind für ihn zwar willkommen, doch seien sie „kein Signal für eine Veränderung der chinesischen Politik“. Das ist allerdings grundfalsch. Man muß wohl wie Jendrzejczyk in Washington arbeiten, um die neue Meinungsvielfalt und die wieder anlaufende Demokratiedebatte in China zu ignorieren. Es gibt seit einigen Monaten zahlreiche Anzeichen dafür, daß derzeit Intellektuelle, die sich öffentlich für mehr Demokratie einsetzen, von den Behörden nicht verfolgt werden. „Sie sagen, jeder ist dafür verantwortlich, die Regierung zu verändern“, wandte sich kürzlich ein Student während einer Vorlesung in der Pekinger Universität an den Reformadvokaten Liu Junning. „Aber sollen wir eine Revolution beginnen oder einen friedlichen Weg einschlagen?“ wollte der Student wissen. Liu antwortete knapp: „Das müßt ihr selber wissen.“

Die erstmals seit 1989 wiedergewonnene Redefreiheit für Demokraten schließt Regierungskritiker wie den ehemaligen Staatsbeamten Fang Jue mit ein, der kürzlich ungestraft freie Wahlen forderte und dafür von im Ausland lebenden Dissidenten wie Wei Jingsheng ausdrücklich gepriesen wurde. Allerdings hört die Freiheit dort auf, wo die Kritiker sich politisch organisieren wollen. Deshalb mußte die Menschenrechtsorganisation Human Rights in China gestern melden, daß eines ihrer Mitglieder nach der Einreise in China festgenommen und ins Flugzeug nach Hongkong gesetzt wurde. So ist auch das haarsträubende Urteil gegen den Ex-Staatsanwalt Shen zu verstehen. Trotzdem ist der Westen derzeit gut beraten, die öffentliche Kritik an den fortwährenden Menschenrechtsverletzungen in China zurückzunehmen und das von dem neuen Regierungschef Zhu Rongji erzeugte Reformklima so zu würdigen, wie das während der Zhu-Visiten in London und Paris geschah. Auch Clintons Besuch kommt zur richtigen Zeit, denn er gestattet ein Klima politischer Toleranz, ohne das die Dissidenten in ihrer traurigen Heldenrolle für westliche Menschenrechtsorganisationen auf ewig verstrickt bleiben. Georg Blume, Peking