■ Wer im Jahre 68 den Kriegsdienst verweigerte, wurde geächtet. Heute sind „Zivis“ eine tragende Säule der sozialen Dienste
: Vom Vaterlandsverräter zum positiven Helden der „Schwarzwaldklinik“

Irren ist menschlich. Als die Passauer Neue Presse im September 1967 unter der Schlagzeile „Der Ersatzdienst wird immer unbeliebter“ einen Abgesang auf das damals gut ein Jahrzehnt alte Phänomen der Kriegsdienstverweigerung in der Bundesrepublik anstimmte, unterlief der Redaktion ein geradezu historischer Irrtum. Denn während die Zeitung vorrechnete, die Quote der Anträge auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer pro Jahrgang habe sich in knapp zehn Jahren halbiert, und zur Stützung ihrer These die Erwartung von „Kreisen des Bundesverteidigungsministeriums“ auf einen weiteren Rückgang zitierte, stieg tatsächlich die absolute Zahl der Anträge 1967 gegenüber dem Vorjahr um ein Drittel. Und wenn auch aus Kreisen des Bundesverteidigungsministeriums bis heute immer wieder ein Rückgang der Verweigerungszahlen vermeldet wird, mittlerweile sind sie sechsundzwanzigmal so hoch wie 1967.

Der Keim dieser Entwicklung liegt in der Politisierung und Polarisierung der gesellschaftlichen Diskussion der ausgehenden sechziger Jahre. Der zivile Ersatzdienst, wie der heutige Zivildienst in offizieller Diktion bis 1973 hieß, wurde zu einer der Protestformen gegen die Generation der Wehrmachtsväter, gegen Notstandsgesetze und Vietnamkrieg.

Die jungen Männer, die sich trotz gesellschaftlicher Ächtung in wachsender Zahl auf Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes („Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“) beriefen, hatten unterschiedliche Motive: Da waren die Pazifisten in der Tradition der Wiederbewaffnungsgegner und Ostermarschierer auf der einen und die sich radikalisierenden Schüler und Studenten auf der anderen Seite. Im Protest gegen die Eskalation des Vietnamkriegs fanden sie zusammen: „Abzug der amerikanischen Truppen, freie Wahlen für Südvietnam, das sind Forderungen, die schlagkräftiger werden mit jedem abgeschossenen amerikanischen Flugzeug, mit jedem verbrannten Einberufungsbefehl“, proklamierte der SDS im Mai 1966. Mit Pastor Martin Niemöllers Wort, trotz Mißbilligung der Methoden der Befreiungskämpfer nicht zu vergessen, auf wessen Seite das Recht sei, konnten auch rigorose Kriegsgegner sich für den Vietkong in die Bresche schlagen.

Mit welchen Widrigkeiten bekennende Kriegsdienstverweigerer in dieser Zeit zu ringen hatten, belegt das Beispiel des Jürgen B.: Im Herbst 1968 verlangte der im Stadion des Fußball-Bundesligisten Alemannia Aachen mit seinem Zivi-Ausweis verbilligten Zutritt, wie er auch Soldaten gewährt wurde. Vergeblich. Ein Beschwerdebrief an die Geschäftsstelle des Vereins mit dem Hinweis auf die gesetzlich garantierte Gleichstellung von Soldaten und Ersatzdienstlern brachte statt der Rückerstattung des überzahlten Eintrittsgeldes den schriftlichen Hinweis, daß „nur die Leute, die das graue Ehrenkleid unserer Wehrmacht tragen“, Preisnachlaß bekämen und man „keineswegs gekränkt“ wäre, „wenn Sie als Kriegsdienstverweigerer in Zukunft unsere Bundesligaheimspiele nicht mehr besuchen würden“.

Aber gegen Widerstände mußte sich jeder Kriegsdienstverweigerer durchsetzen. Spätestens vor dem Prüfungsausschuß, der die sogenannten Gewissensgründe für die Entscheidung gegen den Dienst an der Waffe abfragte. Der Vorsitzende aus der Bundeswehrverwaltung, ein Beisitzer aus der staatlichen und zwei aus der kommunalen Verwaltung nahmen den Gewissens-Check vor. Mit Fragen, wie man sie aus schlechten Filmen kennt: „Stellen Sie sich vor, ein Russe will Ihre Freundin vergewaltigen. Wie reagieren Sie?“ Zweieinhalb Stunden dauerte das Verhör bei Leo Sommer 1975: „Als schüchterner junger Mann war man da schon beeindruckt“, erinnert sich der spätere KDV-Berater der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner in München. Der Ausschuß war es in seinem Fall nicht, und so durchlief Sommer sämtliche Instanzen: Nach dem Widerspruch gegen die Ablehnung der Anerkennung die zweite Verhandlung vor der Kammer für Kriegsdienstverweigerer, nach abermaliger Ablehnung die letzte Chance vor dem Verwaltungsgericht. Von seinem 18. bis zum 29. Lebensjahr wartete Sommer auf seine Anerkennung. – Kein außergewöhnlicher Fall.

„Wir haben dieses Verfahren immer als Inquisition bezeichnet“, faßt Ulrich Finckh die Kritik der Kriegsdienstgegner zusammen. Finckh, von 1962 bis 1970 Studentenpfarrer in Hamburg und ab 1967 Beauftragter der evangelischen Landeskirche für Kriegsdienstverweigerer, ist seit 1971 Vorsitzender der Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen in Bremen. Er hat den Aufbruch 1968 und alle weiteren Entwicklungen der Kriegsdienstverweigerung unmittelbar miterlebt. Wie sich die Verweigererzahlen von 1967 auf 1968 verdoppelten und bis 1970 verdreifachten. Wie eine Studie einer „Arbeitsgemeinschaft der Ersatzdienstgruppenleiter“ 1970 vor einer „politischen Radikalisierung der Heranwachsenden im Ersatzdienst“ warnte und, um den Dienst nicht zu einem „Sammelbecken anarchistischer Bestrebungen“ werden zu lassen, die Einrichtung von Sammellagern vorschlug. Wie das Bundesverfassungsgericht die Zivildienstnovelle von 1977, nach der ungediente Wehrpflichtige ohne jegliches Prüfverfahren verweigern konnten, für verfassungswidrig erklärte. Aber auch die kleinen Fortschritte: die Einsetzung eines Bundesbeauftragten für den zivilen Ersatzdienst 1969, die Errichtung des Bundesamtes für den Zivildienst 1973 und damit die Verlagerung der Oberhoheit über den Zivildienst vom Bundesinnen- zum Arbeits- und Sozialministerium und schließlich die Abschaffung der mündlichen Gewissensprüfung für ungediente Wehrpflichtige am 1. Januar 1984.

Ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der Kriegsdienstverweigerung: die „Schwarzwaldklinik“-Serie. „Da war erstmals der Zivi der positive Held“, so Finckh. Erleichtert allerdings wurde das durch die Trennung von Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst der moralische und politische Anspruch des Kriegsdienstverweigerers wurde im Klischee des mitfühlenden Zivis weitgehend ausgeblendet. Eine Tendenz, die bis heute besteht. Bei über 150.000 Antragstellern pro Jahr (1997: 154.975), bei aktuell gut 134.000 Kriegsdienstverweigerern in Pflege-, Fahr- und Sozialdiensten, im Umweltschutz, Handwerks-Jobs und Rettungsdienst ist der Zivi zum anerkannten und mitunter als unentbehrlich empfundenen Teil des sozialen Systems geworden. Die Frage der Kriegsdienstverweigerung wird, das dürfte wie dem Autor über neunzig Prozent derer so ergangen sein, die nach 1984 verweigert haben, ohne zugleich den Zivildienst abzulehnen, zu einer politisch unspektakulären Privatsache. „Heute reicht eine einigermaßen lesbare Begründung, in der irgendwo das Wort Gewissen vorkommt, um anerkannt zu werden“, beschreibt KDV-Berater Sauer die gängige Praxis. „Wer vor dreißig Jahren verweigert hat“, vergleicht Pastor Finckh, „der war viel leichter zu diffamieren. Der mußte sich ernsthaft rechtfertigen. Heute gibt es ja fast Wahlfreiheit.“ Dieser Aussage würden zwar die Verteidigungsstrategen auf der Hardthöhe energisch widersprechen, gilt ihnen doch der Wehrdienst immer noch als Regel, Zivildienst als Ausnahme. De facto aber sind sie, in diesem Fall übereinstimmend mit den Vertretern der Sozialverbände, ganz froh, wenn sich derzeit pro Jahrgang ein Drittel der wehrtauglichen Jugend entscheidet, dem Vaterland ohne Waffe zu dienen: 150.000 Kriegsdienstverweigerer jährlich sind 150.000 Wehrpflichtige weniger, die in der geschrumpften Bundeswehr untergebracht werden müssen. Für die Sozialdienste sind es billige Arbeitskräfte, vom Staat mit über zwei Milliarden Mark jährlich subventioniert. Ein Effekt, den so wohl kein „68er“ erwartete. Alexander v. Hartling