Keine Story

Studentenunruhen in München. Zwei Menschen sterben. Sie wurden nie ein großer Fall für die Medien  ■ Von Ulrich Chaussy

Man braucht nur Namen zu nennen, und die Geschichten von 68 purzeln. Meint man. Ist aber nicht immer so. Denn wer kennt Rüdiger Schreck, wer Klaus Frings? Sie starben am 17. April 1968, zwei Tage, nachdem sie auf der Demonstration gegen das Redaktions- und Druckereigebäude des Springer-Verlages in München schwer verletzt worden waren.

Dossier 1: Klaus Frings, 32 Jahre, Fotograf der Nachrichtenagentur AP. Verheiratet, ein Kind. Sein Chef Richard Hofer beordert ihn am Ostermontag in die Barer Straße. „Auf der Mitte der Straße waren die Polizeiabsperrungen, wir Journalisten standen dahinter, auf der beleuchteten Seite der Häuserfront. Die Demonstranten kamen von der unbeleuchteten Straßenseite, von der Seite der Parkanlage her.“ Richard Hofer grübelt heute über die Verkettung von Umständen und Zufällen nach, die Klaus Frings das Leben kosteten. Etwa, daß Klaus Frings getroffen wurde und nicht er selbst, drei Meter neben ihm. Einen dumpfen Aufschlag habe er gehört, die Aufschreie weiterer Augenzeugen, die sahen, wie Frings getroffen wurde. In dem Gewühl von vorandrängenden Demonstranten und sich dagegenstemmenden Polizisten war kein Steinewerfer zu erkennen, sagt Hofer. Er wisse nur, daß dieser Wurf mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit von der unbeleuchteten Straßenseite und somit aus Richtung der Demonstranten gekommen sei.

„Klaus bat mich nach einer Weile, ich solle für ihn in der Frankfurter AP-Zentrale anrufen, es werde keine heißen Fotos geben“, erinnert sich die mit Frings befreundete Journalistin Susanne S. Als sie wiederkam, lag er blutend am Boden. Sie begleitete ihn im Notarztwagen in die Klinik, erlebte, wie das Klinikpersonal den laut vor sich hinphantasierenden Frings zunächst nach seiner Krankenkasse ausfragte, bevor es mit der ärztlichen Notversorgung begann. Sie hat später Recherchen darüber angestellt. Die Operation eines Blutgerinsels in Frings' Gehirn am nächsten Tag kam dann zu spät. Und die Suche nach dem Täter? „Die Polizei sagte, sie fahnde nach dem Täter, damit habe ich mich in dieser Situation zufriedengegeben.“

Die Frage berührt bei Susanne S. einen wunden Punkt. Frings sei „mit dem Herzen auf der Seite der Demonstranten“ gewesen, „wenn man so will: ein Sympathisant“. Auch Susanne S. mußte nach allem, was man über die Todesumstände von Klaus Frings in Erfahrung bringen konnte, annehmen, daß der tödliche Stein mit größter Wahrscheinlichkeit von Seiten der Demonstranten kam. Die Münchner Polizei veröffentlichte eine vage Täterbeschreibung. Ein Verdächtiger wurde nie gefunden. Die Reaktion der Münchner Studenten: Sie organisierten eine Demonstration mit der Parole: „Steine sind keine Argumente“.

Dossier 2: Rüdiger Schreck, Student 27 Jahre. Sein Bruder Reinhard wurde in der Nacht zum 18. April von einer Polizeistreife aus dem Bett geklingelt. Sein Bruder war bei der Demonstration in der Barer Straße schwer verletzt worden und nach zwei Tagen am späten Abend des 17. April im Krankenhaus gestorben. Ein unbekannter Demonstrant habe eine Holzbohle geworfen, die Rüdiger Schreck am Hinterkopf getroffen habe, lautete die lakonische Auskunft der Polizisten. Beim Versuch, die Geschichte seines Bruders genauer in Erfahrung zu bringen, stieß Reinhard Schreck auf eine Fülle von Merkwürdigkeiten. „Dutschkist“ war bei den Personalien seines Bruders im Aufnahmeformular der Klinik verzeichnet worden. Aber ihn, der unter gleicher Adresse wohnte, verständigte zwei Tage lang niemand.

In mühsamer Recherche fand Reinhard Schreck heraus, daß das Verletzungsbild seines Bruders in keiner Weise mit dem von der Polizei beschriebenen Tatablauf übereinstimmte. Sein Bruder war nicht am Hinterkopf verletzt worden, wies dafür aber eine ungeklärte Verletzung am Brustkorb auf. Ein anderer Demonstrant, der tatsächlich am Hinterkopf verletzt worden war, meldete sich. Der Amateurfilm eines Studenten tauchte auf und wies eine neue Spur: Er zeigte am Ort der Verletzung von Schreck einen Dokumentationsfilmtrupp der Polizei, dessen Beleuchter mit der Filmlampe einen kraftvollen Schlag in Richtung der Demonstranten führt. Die Polizei mußte einräumen, daß dieser Filmtrupp vor Ort war. Reinhard Schreck durfte das Polizeifilmmaterial nie sehen, obwohl er am ehesten seinen Bruder hätte identifizieren können. Reinhard Schreck verwendete auch Informationen, die er mit Hilfe eines „studentischen Ermittlungsausschusses“ herausgefunden hatte – und mußte sich seitens der Staatsanwaltschaft zur Begründung sagen lassen, es sei ja nicht sicher, daß er mit Kräften zusammenarbeite, die den Tod seines Bruders verursacht hätten.

Günter Wallraff und Rainer Taudien fanden später heraus, daß der Beleuchter des Polizeifilmtrupps wenige Monate nach der Demonstration am Ostermontag frühzeitig „wegen dem Herzen“ pensioniert wurde. Wallraff und Taudien gelang die Wiederaufnahme der Ermittlungen, die im Januar 1971 zum zweiten Mal und endgültig eingestellt wurden. Eine Nachfrage in diesen Tagen ergibt: Der seinerzeit pensionierte Filmbeleuchter ist 1995 gestorben.

Klaus Frings, Rüdiger Schreck. Die beiden Toten der Osterdemonstrationen von 1968, von denen nur gemutmaßt werden kann, wer wahrscheinlich für ihren Tod verantwortlich ist. Zwei Geschichten von 68 ohne Medienwert, ohne mythologische, ohne moralische Qualität. Keine Blutopfer, mit denen irgendwer irgendetwas beweisen kann. Also vergessen.

Der Autor ist Journalist in München