Behinderte Familienbande

Sind behinderte Kinder eine Chance für die Familie oder ihr Untergang? In Büchern jedenfalls bleiben die Eltern zusammen, die Dialoge sind erfrischend anders  ■ Von Marie Müller

Darauf käme eben kein „Normaler“, daß die Steine Vögel waren und nur auf ihren Abflug warten. Weil man immer das werden kann, was man schon mal war.

Viele Stunden hat Pekka damit verbracht, die Steine zu beobachten. Die vier Geschwister wundern sich nicht mehr. Mit dem kleinen Pekka, der aussieht wie ein Frosch, sind überraschende Gedankengänge alltäglich geworden. Auch die Liebe ist allgegenwärtig. Pekka liebt alles, das Gras, die Wolken von innen und außen und alle Menschen. Er strahlt sie an mit seinen großen schielenden Augen, den Kopf schief auf den Schultern, und sagt: „Ich liebe dich.“

Die Kinder in der Schule wissen es nicht zu schätzen. Sie wollen nicht geliebt werden. Das erschöpft Pekka. Doch eines Tages hat er den richtigen Satz gefunden: „Es ist besser, wenn du mich nicht schlägst. Ich schlage nicht zurück.“

Diese berührende Familiengeschichte erzählt Lena, die älteste Schwester, mit Sätzen klar wie die Seen ihrer finnischen Heimat. Trotz Armut, Chaos und vielen Kindern strahlt diese Erzählung so viel Lebensfreude aus, daß man fast traurig wird, keinen Pekka zu haben.

Marjaleena Lembcke: „Als die Steine noch Vögel waren“. Ab 12, Nagel & Kimche, 22,80 DM

Pubertät! Was nun?

„Lieber Niemand“, schreibt die 15jährige Karin auf ihr Briefpapier und vertraut ihm alles an, worüber sie mit niemanden sprechen kann. Immerfort muß sie die Schule wechseln, weil sie wieder umgezogen sind. Und sie ziehen um, sobald es ein Problem gibt mit Karo. Karo ist ihr Zwillingsbruder. Doch sein geistiger Entwicklungsstand entspricht dem eines 6jährigen. Sie verstehen sich gut. Karo ist immer lieb. Daß das Bewußtsein der Mutter nur um Kato kreist, macht der Geschwisterbeziehung nichts aus. Natürlich ist Karin eifersüchtig. Es erschwert die Beziehung zur Mutter.

Zur eigenen Überraschung verliebt sie sich. Womit sie nicht rechnete: daß auch ihr Bruder sich verlieben würde, ausgerechnet in ihre prinzessinnenhafte Freundin mit dem langen Haar. Er streichelt unbeholfen ihr Haar. Er sabbert. Aber das Mädchen lacht: „Ich bin doch nicht aus Zucker.“ Doch Karin ist mißtrauisch, sie glaubt einfach nicht, daß jemand außerhalb ihrer Familie ehrlich zu Kato ist. Er braucht ihren Schutz.

Karins Freund versucht Kato in die Clique zu integrieren. Die Mutter hat schon wieder Umzugspläne. Katos erwachende Sexualität soll keine Mitwisser haben. Da befreit sich Kato von der Familie. Damit Karin nicht schon wieder die Schule wechseln muß.

Dieses Buch zeigt ehrlich und einfühlsam, daß das behinderte Kind erst dann ein Problem für seine Familie ist, wenn seine Umwelt es dazu macht.

Grete Randsborg-Jenseg: „Lieber Niemand“. Ab 14, dtv pocket, 12,90 DM

Eine ganz besondere Mutterliebe

Es gibt Mütter, die geben ihre behinderten Kinder zur Adoption frei. Und es gibt Mütter, die sie haben wollen. Meravas Mutter zum Beispiel. Die ganze Familie steht kopf, keiner will es. Außer der jüngsten Schwester, die sich auf ein Baby freut.

Die Mutter setzt sich durch. Der Vater nennt das „den Schwierigkeiten des Lebens einen roten Teppich ausrollen“ und zieht sich zurück. Der älteste Sohn rettet sich zum Militär. Merava ignoriert es. Und die Mutter hat nur noch Zeit für Roni.

Das Baby hat ein Down-Syndrom mit schwerem Herzfehler. Merava besucht ihre Mutter im Krankenhaus, um sie mal wieder zu sehen. „Was bist du für eine Mutter!“ brüllt der Vater, „Was bist du für ein Vater!“ schreit die Mutter. Ihre einzige Freundin verläßt sie. Die Kinder auf der Straße zeigen mit Fingern auf das Baby. Sein erstes Lebensjahr bringt das Familienschiff fast zum Kentern.

Aber es kommen auch neue Leute hinzu, der Großvater von Roni, Eltern suchen Rat, und auch die Freundin kommt zurück. Und die Liebe zu diesem Kind wächst. Langsam, zögernd wird es in die Familie aufgenommen. Weil Kinder wie Roni nun mal jemanden brauchen, der ihnen hilft und für sie sorgt, meint Merava und kann doch ehrlich zugeben, daß sie mal ganz anders dachte.

Nira Harel: „Eine zuviel“. Ab 14, Alibaba, 21 DM

Vom Unglück verfolgt

Das ist die Überlebensgeschichte von Desiree. Als Kind schwärmte sie für Jungensspiele und Ballett. Kniebeschwerden zwangen sie zur Aufgabe. Sie verliebt sich in einen dänischen Jungen, der einem Autounfall nicht überlebt. Sie bekommt unerklärliche Schmerzen in ihrem Knöchel. Fast zwei Jahre brauchen die Ärzte, um die Ursache zu finden. Doch kaum dem Rollstuhl entstiegen, bricht sie mit Beinlähmung zusammen. Die Leidenszeit geht weiter.

Man schiebt sie auf die Psychoschiene, keiner schaut sich ihren Rücken an. Der geliebte Zwillingsbruder ihres verstorbenen Freundes fällt nach einer harmlosen Operation ins Koma und stürzt sie ins nächste Tief.

Es dauert zwei Jahre, bis ein Heilpraktiker feststellt, daß ihr Rückenwirbel, geschädigt durch das lange Hinken, ihre Beinnerven eingeklemmt hat. Es ist zu spät für eine Operation. Sie ist trotzdem dankbar. Jetzt zahlt die Krankenkasse, sie bekommt eine behindertengerechte Wohnung.

Sie ist zwanzig, als die Autorin des Buches sie trifft. Sie hatte noch einen Verkehrsunfall. Das Genick hat gelitten, die Fingerkoordination. Aber sie studiert, sie will endlich leben. Es gibt so viele, denen es schlechter geht. Wer weiß das schon?

Heidi Glade-Hassenmüller: „Desiree oder Zeit der Prüfungen“. Ab 14, rororo Rotfuchs, 9,90 DM