Die Rache des Lebens

■ Gerhard Roth schickt in "Der Plan" einen etwas verstörten Bibliothekar nach Japan

Bibliothekare sind dankbare Figuren. Jeder kennt solche Typen. Die einen leiten als verhockte und mürrische Zeitgenossen irgendwo bei Marl-Siemsen oder in Grafenau eine kleine oder mittlere Bezirksbibliothek und bewachen wie Zerberusse alle Ein- und Ausgänge. Die anderen, abgebrochene Fachwissenschaftler, überqualifiziert, verdingen sich in subalternen Positionen als Sachbearbeiter, sagen wir: bei der Fernleihe.

In diesem Frühjahr nun trifft es den ehrenwerten Berufsstand gleich doppelt: Judith Kuckarts Bibliothekar im gleichnamigen Roman (Typ 1) beschließt, einfach mit dem Lesen aufzuhören und sich fortan dem Leben und der Liebe zuzuwenden – sprach's und verschwand mit der Geliebten im Chambre séparée. Gerhard Roths Bibliothekar Feldt hingegen (Typ 2) steht nicht nur intellektuell auf der entgegengesetzten Seite, sondern – und das mag seiner Déformation professionelle geschuldet sein – ist geradezu besessen von seiner Leseleidenschaft.

Wir ahnen Schlimmes, schon auf den ersten Seiten, wenn der österreichische Autor Gerhard Roth das Szenario umreißt. „Auf eine komplizierte Weise hing Feldts Verbrechen mit seiner Leidenschaft für das Lesen zusammen, das ihm zur Sucht geworden war.“ Ja, Bücher wirken wie Drogen auf ihn, der seit seiner Kindheit an Asthmaanfällen leidet und darauf auch seine tiefe Leidenschaft zurückführt. „Seine schönsten, intensivsten Leseabenteuer“ hat er gerade nach heftigen Asthmaattacken erlebt, „so als hätte er durch die damit verbundene Gefahr erst Verstand und Phantasie befreit.“

Feldt wird plötzlich aus seiner Behaglichkeit heraus- und mitten ins Leben hineingerissen. Durch den Oberaufseher Glaser, der einen wertvollen Autographen, eine Handschrift Mozarts, aus Bibliotheksbeständen geklaut hat, aber erwischt worden ist und sich in Gegenwart Feldts erschießt, gelangt er in den Besitz der letzten Worte von Mozarts Arbeitspartitur des Requiems – der „letzte(n) sichtbare(n) Spur, die der Unsterbliche auf der Erde hinterlassen hatte“. Das Abenteuer, für Feldt der „Fehdehandschuh an die Bücherwelt“, nimmt seinen Lauf, als er sich auf die Reise nach Japan macht, vordergründig auf eine Vortragsreise, hinter- bzw. abgründig freilich, um den Deal seines Lebens zu machen und die Handschrift an einen japanischen Sammler zu verkaufen.

So bewegt sich Roths Roman ab dem zweiten Kapitel auf zwei Ebenen. Die eine behandelt die Passionen des Bibliothekars, seine Leseabenteuer. Die faszinierenden Beschreibungen oszillieren zwischen Lektüreeindrücken und Textanalysen und bieten nebenbei das Psychogramm eines kenntnisreichen Erotikers der Kunst. Die andere ist im Krimigenre beheimatet und erzählt die Verwicklungen und Verstrickungen beim Geschäft um die Handschrift. Auf wen ist noch Verlaß? Woran kann man sich festhalten? Was bietet Sicherheit, wenn man erst einmal wie Feldt aus der vertrauten Welt der Bücher herausgestoßen worden ist? Feldt, für den es die „absolute Erfüllung“ ist, „lesend auf das wirkliche Leben verzichten zu können“, kommt das Leben störend dazwischen, wie es einmal bei einem anderen Büchernarren, dem jungen Georg Lukács, bezeichnend heißt.

In diesem Fall ist es Japan, dessen Lebensgewohnheiten, Normen und Alltäglichkeiten zugleich nah und doch abgrundtief fremd auf den Reisenden wirken. Roth läßt seinen Protagonisten überaus genau beobachten und demonstriert so die ständige Dialektik von Bekanntem und Andersartigem: schintoistische Kulte oder buddhistische Mönche neben jugendlichen japanischen Rappern, Sushi-Bars und Stundenhotels im Skyscraper-Ambiente. Rätselhafte Frauen, die Feldt (fast) den „ersten Schritt in ein anderes Leben“ weisen. Doch andauernd und überall winkt bedrohlich der Untergang: Vulkane rumoren, Erdbeben kündigen sich an. Auch wenn es die Figur des Mahners und Warners gibt, Prof. Kitamura, das lebendige Menetekel, das bei allen Vulkanausbrüchen zur Stelle ist, alle Warnungen werden in den Wind geschrieben. Und so kommt dann auch Feldt folgerichtig in den Wirren nach einem Erdbeben um, das Roth in einer Mischung aus Kleistscher Genauigkeit und Kafkascher Abgründigkeit beschreibt. Ob er nun von Polizisten getötet worden ist oder, was aus einem Epilog aus der Feder des Botschaftssekretärs Wallner zu entnehmen ist, vielleicht doch eher das Opfer von Kriminellen wurde, das spielt schon keine Rolle mehr.

Merke: Das Leben ist immer anders, unvorhersehbar, gefährlich, ja chaotisch, ebenso wie die Frauen andere sind und man bekanntlich selbst auch ein anderer ist, dann, wenn man erst einmal die Kindheit hinter sich gelassen hat und damit auch den kindlichen Glauben, wonach das bessere und richtige Leben immer nur in den Büchern steht. Aber ungestraft darf sich niemand einfach in den inneren Bezirk zurückziehen. Das Leben schlägt gnadenlos zurck.

Insofern ist Roths Roman vielleicht auch als Parabel zu lesen. Als Mahnung und Warnung vor (ungezügelter) Lektüresucht mit der gleichzeitigen Empfehlung, das Leben zu leben und in seiner Fremdheit und Kontingenz zu akzeptieren. Denn die Poetik, das hat Roth einmal in einem Gespräch beiläufig geäußert, ist in der Wirklichkeit selbst verborgen. Eine Warnung nicht im Sinne der Aufklärung, die dem Lesesüchtigen Augenleiden und Hämorrhoiden beschieden hat, sondern eine, die selbst wieder ein gelungenes Stück Literatur über Literatur und deren Liebhaber vorstellt. Damit ist Roths „Der Plan“ eine ebenbürtige Fortsetzung von Musil, Borges und Eco mit ihren Texten über Bibliotheken und diese seltsame Spezies Mensch: genannt Bibliothekar. Werner Jung

Gerhard Roth: „Der Plan“. Roman. Fischer Verlag, Frankfurt/ Main 1998, 300 Seiten, 38 DM