Nur Paradiese sind grenzenlos

Aktienkurse steigen ohne Ende. Waffen- und Drogenhandel, Aids, saurer Regen und Radioaktivität kennen keine Grenzen. Grenzenlosigkeit ist eine gewaltsame totalitäre Utopie. Was wurde aus dem emanzipatorischen Versprechen von Freiheit und Fortschritt?  ■ Von Hermann Pfütze

In einem Bericht der Frankfurter Rundschau über Bandenkriminalität an Österreichs Grenzen ist vom „Ruf nach grenzenloser Polizeiarbeit“ die Rede; in einer Reportage der Süddeutschen Zeitung über das Milieu fremdenfeindlicher jugendlicher Gewalttäter in Ostdeutschland wird vor der „grenzenlosen Nachsicht“ von Eltern, Lehrern und Polizei gegen ihre Zöglinge gewarnt; in einem Essay in der Zeit über „Das Gesetz des Gemetzels“ spricht Wolfgang Sofsky vom Durchbrechen der Grenze zum Exzeß; ein Bericht in der taz über Berliner Kunst in Barcelona heißt, eher harmlos, „grenzenlos facettenreich“. Und ein Soziologie- Kongreß im Herbst hat das Thema „Grenzenlose Gesellschaft?“.

Grenzenlosigkeit hat in der Tat viele Facetten. Bei Aktienkursen und im Internet, im Waffen- und Drogenhandel, bei radioaktiven Wolken, saurem Regen und Aids ist sie selbstverständlich. Allerdings, der einst positive Beiklang von Freiheit und Emanzipation ist hin, heute ist Grenzenlosigkeit für die meisten Menschen eher gefährlich als nützlich. Und wo sie noch positiv klingt, wie in Reisepässen, „für alle Länder“, ist sie hinfällig, weil viele Länder für Reisende zu gefährlich geworden sind. Die aus diesen Ländern fliehen vor Elend und Bürgerkrieg, werden hier bei uns ausgegrenzt und eingesperrt. Überall, sogar in Flüchtlingslagern ohne Wasser und Brot, gibt es heute nur „guns, drugs 'n' 'tronics“. Genauer besehen, ist mithin am Traum der Grenzenlosigkeit nichts Gutes mehr. In den harmlosen Fällen, etwa der Kunst und des Internetverkehrs, resultiert sie in Beliebigkeit – alles ist überall verfügbar. In den meisten anderen Fällen jedoch resultiert Grenzenlosigkeit in totalitärer Gewalt und im Verlust humaner Orientierung. Der Preis der neuen europäischen Reisefreiheit ohne handfeste Grenzkontrollen ist in der Tat die „grenzenlose Polizeiarbeit“ mittels modernster Elektronik. Gefährlich und grundrechtswidrig an „Lauschangriff“ und „verdachtsunabhängiger Schleierfahndung“ ist, daß man sie nicht merkt und ihnen ohne Gegenwehr ausgeliefert ist. Am Schlagbaum respektieren sich noch beide Seiten, Verdacht und Täuschung, kleine Geschenke und Machtproben, diese typischen Grenztugenden, werden nun jedoch als kupplerische Störfaktoren eliminiert. Jede Praxis, die keine Grenzen mehr kennt, pervertiert mithin den Grenzbegriff selbst und wird in brutaler, inhumaner Weise einseitig. Denn Grenze ist ein Verhältnis, kein Ding. Und grenzenlose Verhältnisse kann es darum nicht geben, sie wären das Ende aller Verhältnismäßigkeit. Von der Art ist die „grenzenlose Nachsicht“ ostdeutscher Eltern, Lehrer und Polizei gegen ihre gewalttätigen Kinder: Die gleiche Polizei, die Fremde grenzenlos verfolgt, setzt ihrer eigenen Brut keine Grenzen, wenn die das nachmacht.

Diese Gleichgültigkeit entspricht der Grenzenlosigkeit in einem homogenisierten Milieu, dessen Utopie einst „Sozialismus ohne Grenzen“ hieß, aber mit Ausreiseverbot. Wer in einer grenzenlosen Gesellschaft lebte, wüßte nicht, wo er lebte, denn ihm fehlte nicht nur die Erfahrung anderer Gesellschaften, sondern auch ein Verhältnis zur eigenen.

Grenzenlosigkeit wäre das Ende der Gesellschaft. Aus Fremden werden Feinde. Grenzen funktionieren in totalitären Systemen als Grenzerfahrungsverbote. „Totalitärer Integralismus“ (Umberto Eco) frönt dem vermessenen Ideal der Perfektion, der Sehnsucht nach dem Ende der Geschichte, der einen Welt mit einer Sprache und einem Wertsystem. Zwischen Gleichmachern und Gleichen herrschte dann idealerweise Kommunion, nicht mehr Kommunikation. Das Perfekte, Fertige und Vollendete ist jedoch die Antithese menschlichen und sozialen Handelns schlechthin, ist der Inbegriff der Negation aller Grenzen, Unterschiede und Verhältnisse.

Nur Paradiese und Utopien kennen keine Grenzen. Ihr Ziel ist geist- und klaglose Zufriedenheit als Dauerzustand der Vollendung. Darum enthalten sie Ausreiseverbote und absolute Grenzen, jenseits derer nichts ist. Die ökonomische Globaliserung, der Weltmarkt des Kapitals, könnte, so Bourdieu, aus den Globalisierungsexperimenten des Nationalsozialismus und des Sowjetsystems lernen, daß Vollendung am Ende totalitär und unterkomplex wird. Nicht die beste, sondern die schlechteste Versorgung (auch mit Poesie und Musik) setzt sich überall durch. Nicht gleicher Wohlstand aller, sondern Gleichheit in Mangel und Elend waren bislang das Ergebnis totalitärer Globalisierung in jenen global und grenzenlos konzipierten Reichen.

Grenzenlosigkeit ist fremdenfeindlich und erzeugt die Manie des Überall: im 17.Jahrhundert überall Hexen, heute überall Taschendiebe und Russenmafia, um bei Ecos Beispielen zu bleiben. Solchen Manien kann Vernunft nicht Einhalt gebieten, sondern wird selbst als Manie verdächtigt und verfolgt. Nun ist freilich ein Unterschied zwischen den totalitären, zentral gesteuerten Globalisierungsunternehmen der Nazis und Sowjets einerseits und der deregulierten, ultraliberalen Globalisierungsdynamik des modernen Finanzkapitalismus. Dieser provoziert und verschärft Unterschiede. Er lebt davon, Unterschiede zu erzeugen und auszubeuten, während totalitäre Globalisierung bestrebt ist, das soziale Leben unterschiedslos anzugleichen. Das Ziel kommunistischer Utopien, nämlich Vollendung und Stillstand, wäre für den globalen Kapitalismus das Ende. Deswegen wohl kommt der Kapitalismus ohne Utopien aus und kennt kein Paradies.

Was aber ist mit den neuen nationalistischen Kleinstaaten, die scharfe Grenzen ziehen gegen ihre einstigen Mitbürger und Landsleute? Sie sind im Innern grenzenlos und totalitär; nichts darf anders, ungleich, fremd sein und sich der neuen, homogenisierten Identität entziehen. Für junge Leute zum Beispiel boten die ehemalige Sowjetunion und Jugoslawien eine Freizügigkeit der Berufswahl und Familienflucht, die ihnen heute verwehrt wird von lokalen und nationalen Autoritäten. In Usbekistan werden die Mädchen wieder islamisch von den Clanchefs verheiratet, und Scheidung ist verboten – Mekka statt Moskau ist die neue Orientierung. Und junge Leute aus Kroatien können nicht mehr nach Belgrad oder Sarajevo zum Studieren gehen. Die politische und ethnisierende Homogenisierung macht vor nichts halt. Das ist das Gefährliche an der Grenzenlosigkeit nach innen, wie beim atomaren Regen und beim Abhören: Sie durchdringt alle Sphären und Häute. Freie, offene Gesellschaften zeichnen sich dagegen aus durch Grenz-Bewußtsein bei offenen Türen, durch Fluchtwege und innere Geräumigkeit. Die beste Gesellschaft ist die, die auch nach Belieben verlassen werden kann, mithin ebensolche Nachbarn hat.

Hermann Pfütze ist Professor für Soziologie in Berlin