Aufmerksamer Blick

Wieviel Sinn erlaubt ein Leben nach Auschwitz? Imre Kertész und sein Gedankenbuch „Ich – ein anderer“  ■ Von Balduin Winter

Voller Fragen und Zweifel steht Imre Kertész seinem „Ich“ gegenüber: „Der Abgrund zwischen mir und mir...“. Viel lieber hielte er sich für einen x-beliebigen „Jedermann“. Aber Kertész ist kein Jedermann. Er ist ein Jude, einer, der Auschwitz erlebt und überlebt hat. Einer, dem Auschwitz kein „Thema“ ist, sondern existentielle Erfahrung, vor der jede historische oder wissenschaftliche Interpretation versagen muß. Einer, der dem Holocaust einen zentralen Platz als „gigantisches Negativum“ in der modernen Mythologie zuweist: „Gott hat die Welt erschaffen, der Mensch hat Auschwitz erschaffen.“

Mit seinem „Roman eines Schicksallosen“ hat der Ungar Imre Kertész eines der bedeutendsten Prosawerke über den Holocaust verfaßt. Dieser Bericht eines Augenzeugen, für den nur die Wahrheit des „aufmerksamen Blicks“ zählt, ist mit seinem dokumentarischen Ton ein schockierendes Psychogramm der totalitären Gesellschaft. Wie zur Bestätigung war dem nächstfolgenden totalitären System dieser Roman nicht genehm. Man verstand sehr wohl, daß Kertész über Auschwitz hinaus auf jede Art des Totalitarismus zielte. Umgekehrt ließ sich Kertész von der realsozialistischen Gesellschaft nicht vereinnahmen, wieder und wieder analysierte er das Verhältnis zwischen geschlossener Gesellschaft und Freiheit, zwischen Ideologie und Wirklichkeit. In seinem Essay „Der überflüssige Intellektuelle“ erklärt er, „daß nur eine Wirklichkeit existiert: ich selbst, und daß ich aus dieser einmaligen Wirklichkeit meine einmalige Welt schaffen muß“.

Wer aber ist dieses „Ich“? Kertész setzt bei verschiedenen Phänomenen an. Er sieht sich in Wechselbeziehung mit seinem Leben, dem er „ausgeliefert“ ist. Er greift Wittgensteins Frage nach dem Namen auf – und stellt fest, daß der Name bloß ein Merkmal des Gehorchens war, daß er noch heute seinen Namen fürchtet („Höre ich meinen Namen..., fühle ich mich gewissermaßen aus dem friedlichen Versteck meiner Anonymität herausgerissen...“). Er definiert für sein Ich eine nomadische Lebensform: eine angenehme Mietwohnung, freundliche Möbel, heimatlos, unabhängig, Wittgenstein übersetzend oder was sich gerade ergibt. Zugleich gilt aber auch: „Ich bin das unverbesserliche Kind von Diktaturen, meine Besonderheit ist das Gebrandmarktsein.“ Darin sieht er seine wahrhaftigste Erfahrung unter den Menschen, seine Krankheit, zugleich aber auch Quelle seiner Vitalität und seiner Inspiration, die es ihm ermöglicht, vom Sein zum Schreiben überzuwechseln, das er als seine „einzige Identität“ bezeichnet, „eine sich selbst schreibende Identität“.

Dagegen weigert er sich, eine nationale, konfessionelle oder rassische Zugehörigkeit zu formulieren. Scharf polemisiert er im Sommer 1993 gegen den aufbrandenden Nationalismus, gegen den Begriff der „Nation“, der ihn an 1944 erinnert und der für ihn ein falsches, dem ganzen Land aufgezwungenes Bewußtsein verkörpert. Auch den Begriff der Rasse will er nicht zur Bestimmung seiner Identität heranziehen. „Ungern“ muß er einräumen, daß Jude nicht bloß ein abstrakter Begriff ist. Das Judentum spielt für ihn vor allem dort eine Rolle, wo es auf direkte, negative Reaktionen stößt, im Antisemitismus der Skinheads ebenso wie bei einer Tagung in der Evangelischen Akademie in Tutzing. Dort wurde von offizieller ungarischer Seite verlautet, Kertész schriebe immer nur über ein einziges Thema, nämlich Auschwitz, und wäre somit nicht repräsentativ für sein Land. Über diese Diskriminierung empört er sich, eine produktive Empörung, gebündelt zu einer kurzen, prägnanten Einschätzung der jüngeren Geschichte Ungarns, des ungarischen nationalen Größenwahns und des ungarischen Antisemitismus.

Die Fragen, die Kertész aufrollt, scheinen vordergründig wenig mit seinem „Ich“ zu tun zu haben. Aber im Grunde sind es allesamt Fragen, die ganz persönlich mit ihm zu tun haben: Er ist Jude, er war in Auschwitz, er hat sich außerhalb des totalitären Systems gestellt, er findet Identität nur im Schreiben, er erlebt den alltäglichen Antisemitismus.

Geradezu paradox wirkt es, wenn er angesichts seiner Erfahrungen – die Welt ist „eine notwendig zu verwerfende...“ – als zentrale Kategorie die Frage der Moral aufwirft: „Bedarf es, um das Leben voranzutreiben, noch schlichten menschlichen Ernstes oder kann man auf solchen verzichten; ist Moral im klassischen Sinne noch wichtig oder genügt hemmungsloser Machtzuwachs; inwiefern können der hemmungslose Machtzuwachs und die Unterordnung der Moral (die Funktionalisierung des Individuums, der Person) zu einem besseren und reicheren Leben beitragen? Und ist die moralische Qualität des Lebens – das Bemühen, besser zu werden – überhaupt noch eine Kategorie, über die sich nachzudenken lohnt – oder ist die innere Kultur des Menschen mit Tolstoi zu Ende gegangen?“

Wer nach der Moral fragt, fragt auch nach dem Sinn. Aber ist dieses Leben nach Auschwitz nicht sinnlos? Gibt es zwischen Leben und Sinn überhaupt einen Zusammenhang? Ist das „Ich“ der verbindende Knoten? Mit Antworten ist Kertész sehr zurückhaltend. Sicherlich auch deshalb, weil sie leicht vom Weiterfragen abhalten können. Vor allem aber, weil er Antworten nur als praktische Erfahrung gelten läßt. Freilich beunruhigt ihn der Gedanke, mit seinen Fragen Einfluß auf andere auszuüben, ohne selbst zu wissen, wer er ist.

Alles, was Kertész weiß, ist, daß der „Abgrund zwischen mir und mir“, die Trennlinie zwischen Damals und Heute kaum zu überbrücken ist. Wer aber dieses andere „Ich“ ist, bleibt unbeantwortet. Ein paar Mutmaßungen, vor allem aber Fragen über Fragen.

Imre Kertész: „Ich – ein anderer“. Aus dem Ungarischen von Ilma Rakusa. Rowohlt Berlin, Berlin 1998, 144 Seiten, 29,80 DM