Ach Vater!

■ Die ewigen Seufzer im Gespräch der Generationen: Ein lyrischer Versuch

Du hast eine nur psychologisch

ergründbare Abneigung gegen den Putzlappen. Selbst wenn du dein Frühstücksgeschirr wegräumst, bleiben die Krümel liegen.

Ach Vater, ach!

Hattest du als Student nicht auch den Teller dreimal benutzt, weil

dir die Zeit zum Spülen zu kost-

bar war und es soviel kennenzulernen, zu lesen und zu diskutieren gab?

Ach Tochter, ach!

Du hast dir eine Glatze geschnitten und rasiert – nicht der Läuse wegen, nur zum Ausprobieren und um die Haarwäsche einzusparen.

Ach Vater, ach!

Hattest du dir nicht einen Vollbart stehen lassen und bis zu Hause rausgeflogen? Und jenes Paßbild mit dem schulterlangen Haar und dem Mittelscheitel?

Ach Tochter, ach!

Du bist selten zu Hause, treibst dich auf Seminaren bundes- und europaweit herum und organisierst solche.

Ach Vater, ach!

Hattest du nicht auch jede Wochenendfreizeit mitgenommen und die neueste Entwicklung in der Theologie abendfüllend diskutiert?

Ach Tochter, ach!

Dein Zeugnis könnte glänzend sein bei diesen Eltern und wenn du dich mehr um die Schule kümmern würdest.

Ach Vater, ach!

Warum zeigst du mir dein Zeugnis nicht und bist in Mathe auf der 3 geblieben?

Ach Tochter, ach!

Du bist fortgegangen, soweit es nur geht auf der Erdkugel von uns entfernt, um dich zu entziehen und um ganz für dich allein entscheiden zu können.

Ach Tochter, ach!

Bist du für deinen Zivildienst nicht auch von Flensburg nach Konstanz gezogen, um deinen Eltern zu entfliehen?

Ach Tochter, ach!

Jetzt bist du total übergeschnappt: willst Bundeskanzlerin werden. Du willst dir überlegen, ob du mir dann einen Job als Pressereferent verschaffst. Aber ich soll schon

mal anfangen, die Zeitungen

für dich zu lesen und aufzubereiten.

Ach Vater, ach!

Wolltest du nicht auch den Himmel stürmen und hast auf Erden Barrikaden gebaut?

Ach Tochter, ach!

Wir haben einen Sonntag lang die Klausur über Nathan den Weisen vorbereitet, du hast eine glänzende Arbeit geschrieben und nach drei Wochen bestreitest du, daß wir je gemeinsam über Lessing gesprochen haben!

Du gibst in öffentlichen Interviews bekannt, daß dein konsequenter ökologischer Alltag an der Bequemlichkeit deiner Eltern scheitert.

Und wenn ich deine Femi-Sprüche nicht dreimal zustimmend wiederhole, soll ich in die Macho-Kasse zahlen!

Ach Vater, ach!

Wenigstens dankbar könntest du sein! Meinhard Schröder

Die Tochter des Autors war 1997 an der Produktion der taz durch 18jährige beteiligt