Bürgerrechtler inspirieren US-Gewerkschaften

■ Jerry Zellhoefer vom US-Gewerkschaftsbund AFL-CIO über neues Engagement der Gewerkschaften

taz: In Rußland sind zu den Protesten gegen ausgebliebene Lohnzahlungen viel weniger Leute gekommen, als von den Gewerkschaften erwartet. Warum?

Jerry Zellhoefer: Es sind nur 2 Millionen Arbeiter in unabhängiogen Gewerkschaften organisiert, die große Mehrheit von 44 Millionen ist noch in den ehemaligen kommunistischen Staatsgewerkschaften, deren Führung es gewohnt ist, die Menschen zu kommandieren. Die haben die harte Basisarbeit einer Gewerkschaft noch nicht gelernt.

Hat die AFL-CIO Kontakte zu den russischen Gewerkschaften und gibt sie noch Hilfe wie zu den Zeiten von Solidarnośź in Polen?

Es gibt kleinere Programme wie technische Beratung und ein Training, wie Gewerkschaften zu organisieren sind. In den siebziger Jahren hat die AFL-CIO viel mehr Hilfe an Solidarnośź gegeben, weil Solidarnośź im Gegensatz zu den heutigen russischen Gewerkschaften damals noch eine Untergrundbewegung war, die materielle Unterstützung brauchte, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen.

Es wird gesagt, daß viele der Gelder, die die AFL-CIO für ihre Arbeit benutzt, von der US—Regierung kommen?

Ja, es ist eine erhebliche Summe aus amerikanischen Steuergeldern, die in die internationele Gewerkschaftsarbeit wie Ausbildung und Projektunterstützung fließen. Aber es ist weniger geworden in den letzten Jahren.

Seit zwei Jahren hat die AFL- CIO eine neue Führung mit John Sweeney an der Spitze. Hat das die internationale Politik der AFL- CIO verändert?

Es gibt ein neues Engagement zum Internationalismus als Reaktion auf die dramatischen Veränderungen auf globaler Ebene, wo sich das internationale Kapital frei bewegen kann und die Arbeiter gegeneinander in eine abwärtsziehende Spirale des Wettbewerbs zieht, so daß die multinationalen Konzerne ihre Beschäftigten regelrecht ausquetschen können. Diese Spirale müssen wir stoppen. Wir als Gewerkschaft versuchen, Druck auf die US-Regierung auszuüben, daß in den internationalen Handelsabkommen soziale Mindeststandards für Arbeiterrechte und auch Umweltaspekte eine Berücksichtigung finden. Außerdem wollen wir möglichst vielen Gewerkschaften in aller Welt bei dem Aufbau einer tragfähigen Organisation helfen.

Im Kalten Krieg haben die US- Gewerkschaften die Vietnam-Politik der Regierung unterstützt, während viele Studenten dagegen waren. Heute sind diese Studenten in der US-Arbeiterbewegung. Wie haben sie diese beeinflußt?

Für die AFL-CIO ist es entscheidend, mehr Mitglieder zu bekommen, um unsere Politik durchsetzen zu können. Leider ist aber der Organisationsgrad von 1955 bis 1996 von 33 auf 15 Prozent gesunken. Das ist sehr bedenklich. Die neue Führung unter Präsident Sweeney ist durch die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre inspiriert. Vergessen Sie nicht, daß in diesem Monat vor 30 Jahren Martin Luther King jr. ermordet wurde, als er in Tennessee die streikenden Arbeiter der Müllabfuhr unterstützte. Viele der Programme der AFL-CIO zielen darauf, junge Leute zu gewinnen, zum Beispiel in teach ins und anderen Freiwilligenprogrammen, in denen Studenten in der Gewerkschaft mitarbeiten. Dieses ist momentan sehr erfolgreich.

Interview: Elsa Rassbach

Die Interviewerin gab 1968 als deutsch-amerikanische Studentin Zeitschriften für GIs in Deutschland heraus. Heute ist sie Filmemacherin.