Grundrechte sind mehr als Lyrik

■ Das Bundesverfassungsgericht gab der Beschwerde von Medien statt, die gegen Durchsuchungen der Redaktionen protestierten. Damit ist ein gerichtlicher Weg zum Schutz der Grundrechte eröffnet Aus Berlin Chris

Aus Berlin Christian Ströbele

Das Bundesverfassungsgericht hat Beschwerden von Zeitungs- und Radioredaktionen in Bremen gegen polizeiliche Durchsuchungen stattgegeben. Das Landgericht muß daher jetzt neu entscheiden, ob die Durchsuchungen von Weserkurier und Radio Bremen im Juni 1996 rechtmäßig waren.

Damals waren die Redaktionen der Zeitungen, auch der taz Bremen, auf Antrag der Staatsanwaltschaft durchsucht worden. Die Zeitungen hatten aus einem vertraulichen Bericht des Rechnungshofes zitiert und über Haushaltsüberziehungen des Landes informiert. Das Landgericht Bremen hatte seinerzeit die Beschwerden der Medien abgelehnt, da die Durchsuchungen schon beendet waren. Nach der Rechtsprechung waren nach Beendigung solcher Ermittlungshandlungen gerichtliche Überprüfungen unzulässig.

Ein Rückblick: 1974 hatte die Berliner Staatsanwaltschaft wieder mal unser „Sozialistisches Anwaltskollektiv“ mit einem Dutzend Kripobeamten besetzt und über Stunden durchsucht. Als der versammelte Anwaltsverstand protestierte und Zweifel an der Rechtmäßigkeit formulierte, erwiderte einer der anwesenden Staatsanwälte grinsend: „Gehen Sie doch zum Gericht, bis das entscheidet, sind wir längst weg.“ Ein Kollege stellte sich vor die Kripobeamten. Er wurde prompt von mehreren Beamten ergriffen und Hals über Kopf aus seiner eigenen Kanzlei geworfen.

Ähnlich hilflos, frustriert und wütend sahen sich in der Vergangenheit BürgerInnen, Wohngemeinschaften, Anwaltsbüros und Zeitungsredaktionen polizeilichen Durchsuchungen ausgesetzt. Das muß seit letztem Jahr nicht mehr so sein. Der Staatsanwalt hat keinen Grund mehr zu grinsen: Wir könnten auch nachträglich noch die Rechtmäßigkeit der Durchsuchung durch ein Gericht, letztlich durch das Bundesverfassungsgericht feststellen lassen.

Zu Apo-Zeiten waren die ersten Artikel des Grundgesetzes, die Grundrechte, nicht viel mehr als politische Lyrik ohne praktische Bedeutung. Wenn wir uns im Gerichtssaal auf die Grundrechte beriefen, sahen die Richter meist gequält zur Seite, als dächten sie: „Jetzt kommt er uns damit!“

Das Bundesverfassungsgericht war eine Institution, die wir abschaffen wollten. Die Richter, die von den großen Parteien ausgekungelt wurden, hatten sich mit dem KPD-Verbotsurteil diskreditiert.

Spät hat das höchste deutsche Gericht die Grundrechte wiederentdeckt und ausgebaut. In der Brockdorf-Entscheidung war es das Demonstrationsrecht, im Volkszählungsurteil das Persönlichkeitsrecht und in dem „Soldaten-sind-Mörder“-Beschluß die Meinungsfreiheit.

Mit der neuen Entscheidung des ersten Senats und vier gleichlautenden Entscheidungen des zweiten Senats vom Juni 1997 wird ein bißchen mehr an effektivem und lückenlosem Rechtsschutz gegen Polizeiaktionen geschaffen. Solche Entscheidungen in den ersten Jahren dieser Republik hätten uns einiges ersparen können, nicht nur den Rauswurf eines Anwalts aus seinem eigenen Büro.

Nebenher betont das Bundesverfassungsgericht den hohen Wert des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung und der Pressefreiheit. Die Entscheidungen lassen hoffen auf eine verfassungsrechtliche Überprüfung des „Großen Lauschangriffes“ und auf ausstehende Entscheidungen zur Freiheit der Presse von Durchsuchungen und zum umfassenden Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten. Experten haben vorgeschlagen, das Verfassungsgericht zu entlasten durch Abschaffung der Verfassungsbeschwerden. Wehe.

Christian Ströbele war 1968 Anwalt der APO, arbeitet heute als Rechtsanwalt in vielen politischen Strafverfahren und ist Bundestagskandidat der Grünen