Ein Krieger der Demokratie

Joschka Fischers Weg war nicht die Anpassung, sondern die Rebellion innerhalb der Republik und in sie hinein. Ein Porträt zum 50. Geburtstag des grünen Fraktionschefs  ■ Von Thomas Schmid

Wie immer, wenn ihn die Partei ruft, war es sein Abend. Und wie immer, wenn er den grünen Massen zuredet, mischte er Witz mit Mahnung, Lyrisches mit Statistik, grüne Gemütlichkeit mit düsterem Dräuen. Kein Sieg ist sicher, seid auf der Hut, die Gefahr ist groß: Das gehört zur Grundausstattung der Fischerschen Rhetorik, der Doppelschritt von Verheißung und Warnung durchzieht die Rede des grünen Zampanos.

Auf der Abschlußveranstaltung der GAL zur Bürgerschaftswahl zog Joschka Fischer im September letzten Jahres in Hamburgs Kulturstätte Kampnagel die bekannten Register. Eines aber war neu: Der vom hedonistischen Mops zum gestählten Asketen Gewandelte gab sich nicht mehr jugendlich. Mehrfach wies er bei seinem Exkurs zur Unsicherheit der Renten auf sein fortgeschrittenes Alter hin. Er zählte damals 49 Jahre – kein Alter in einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen immer länger leben.

Natürlich hatte die Rede etwas Kokettes: Das amüsierte Dementi des Publikums war eingeplant. Es war Spiel und Ernst zugleich. Noch keine 50 Jahre alt, begann Fischer, sich zum Elder statesman zu stilisieren. Der König der Grünen tat ein wenig so, als sei er auf der Abschiedsreise durch seine Provinzen. Soviel ist an dieser Geste stimmig: Joschka Fischer, der gerne den grünen Papa gibt, ist kein Mann der Zuversicht.

Es war ein weiter Weg, den Joseph Fischer zurückgelegt hat: im Württembergischen Sohn eines Metzgers mit besserer Herkunft, in Gretna Green frühverheirateter Freak, lesehungriger Rebell am Katzentisch der Frankfurter Schule, Fabrikinterventionist, Straßenkämpfer und zugleich entschiedener RAF-Gegner, Taxifahrer, Antiquar, Bundestagsabgeordneter, zweimal Minister, Fraktionsvorsitzender.

Eine Traumkarriere, wie sie eigentlich eher für erschütterte Gesellschaften typisch ist, die das Unterste zuoberst kehren. Als Fischer erster grüner Minister wurde, wollte in der taz einer witzig sein und schrieb unter eine Fischer-Karikatur: „Der lange Marsch durch die Institutionen – einer kam durch.“ Das enthielt, neben dem Unsinn vom Scheitern der 68er- Bewegung, den Vorwurf, da habe einer seine Überzeugungen verraten und nur sein persönliches Schäfchen ins Trockene gebracht. Das ist Unsinn.

Fischers Weg war nicht die Anpassung, sondern die Rebellion: nicht gegen diese Republik, sondern in ihr und in sie hinein; und zwar auch politisch, mehr aber noch existentiell. So weit war daher der Weg, den Joseph Fischer zurückgelegt hat, auch wieder nicht. Fischer selbst ist das, was er Mitte der achtziger Jahre in einer brillanten, aber unbedachten Bundestagsrede seinem großen Gegenüber Helmut Kohl vorwarf: ein bundesrepublikanisches Gesamtkunstwerk.

Als der gerade 20jährige von Stuttgart nach Frankfurt am Main zog, war er dort eine Weile aufmerksamer Zuschauer des Geschehens. Er eignete sich die Codes an, in denen die Damen und Herren Studenten miteinander verkehrten. An der revolutionären Rhetorik beeindruckte ihn, so scheint mir, vor allem das Dezisionistische und ein darin sich ausdrückender Wille zur Macht, der sich im Gleichschritt mit den starken Truppen der Geschichte wähnte.

Er war als eine Art Buchhändler tätig, und verschlang die revolutionäre (und weniger die kritische Frankfurter) Literatur. Eines Abends – es könnte 1970 gewesen sein – begegnete mir auf der Treppe des Hauses, in dem wir beide wohnten, ein aufgeräumter Joschka Fischer: Soeben habe er die Lektüre des dritten Bands von Marxens „Kapital“ abgeschlossen. Er war ein Bücherfresser. Dabei hatte sein Interesse an Theorie früh schon einen Hang ins Praktische, man könnte fast sagen: ins Funktionale. Lenins großtönende „Aprilthesen“ hatten es ihm eine Weile angetan, und noch lange nach dem Ende der Revolte ähnelte sein Zimmer mit den kargen Bücherregalen dem Ambiente Lenins, wie man es von undeutlichen Fotografien her kannte. Bei Fischer brennt noch Licht.

Als Joschka Fischer in der Gruppe „Revolutionärer Kampf“ vom Beobachter zum Akteur wurde, war er von Beginn an ein Politiker der Rede, ein Politiker, der redend agierte. Und seit den frühen siebziger Jahren haben sich die Elemente seiner Rhetorik nicht mehr verändert. Als er öffentlich zu reden begann, übte er sich ohne Umschweife in der Präzeptoren-Rolle. Er sprach nie anders als ex cathedra.

Nicht der Dialog ist sein Medium, auch nicht die rhetorische Verführung: Fischer belehrt. Darin mag die übertriebene Lust des Autodidakten am Professoralen enthalten sein – es hat aber auch etwas Solitäres, Einsames. Ganz abgesehen davon, daß die Fischersche Redekunst immer etwas von Draperie und großem Faltenwurf hatte: etwas zu große Worte für zu kleine Sachverhalte, zu oft das Tremolo der Entscheidungsschlacht. Der Lordsiegelbewahrer der Revolte war und ist rhetorisch ein Krieger. Ohne den Ton der Drohbotschaft kommt seine Rhetorik selten aus. Die Exaltationen der Revolte jedoch gingen ihm bald auf die Nerven. Vor ziemlich genau einem Vierteljahrhundert traf er seine Entscheidung: Als sich der „Revolutionäre Kampf“ im Herbst 1973 in den Tarifauseinandersetzungen bei Opel in Rüsselsheim engagierte, formulierte er die Einsicht, daß es nicht um Revolution, sondern um Reform gehen müsse. Was heute banal klingt, war damals ein bedeutender Schritt: der abrupte Abschied von der Traumwelt des ganz anderen. Und als sich knapp zehn Jahre später die Grünen vom Verein der Sonderlinge zur politischen Kraft zu entpuppen begannen, war das für ihn die einzige Chance, durchs Nadelöhr dieser seltsamen Partei in die Jetztzeit einzutreten.

Hat Joschka Fischer den Grünen gutgetan? Keine Frage: Ohne ihn und seinen unverschnörkelten Willen zur Macht wäre diese Partei, die ein glückliches Geschick 1983 in den Bundestag spülte, noch früher untergegangen als die DDR. Fischer stand von Anfang an für die große Zahl derer, die mit den Grünen nicht im Paradies, sondern in dieser Republik ankommen wollten. Und er war wohl der einzige, der unerschütterlich diesen Weg verfolgte. Nun war ihm sein funktionales Verhältnis zu Theorien und Ideen außerordentlich von Nutzen. Er konnte jetzt „strategisch“ operieren.

Während andere, die sich auch zu den Realos zählten, innerlich noch im Streit lagen mit ihren eigenen idealsozialistischen Restbeständen, focht Fischer von Anfang an ohne Illusionen in einer abgerüsteten Politwelt. Der Chef der Wurzelsepps war nie einer. Regierung, Koalition, Macht: Dies und nichts anderes war das Ziel. Nicht aus Opportunismus. Sondern weil nur dies Veränderung unterhalb der Schwelle des Bürgerkriegs möglich macht.

Im Bundestag, scheint mir, hat Fischer seine Heimat gefunden: fern der Szene (die er lange als den einzigen Sumpf pries, der ihn interessiere) und inmitten all der Polit- Finassierer, denen der Musterschüler schnell das Handwerk abguckte. Er hat damit, an der Spitze agierend, eine ganze Generation allmählich mit eben jener repräsentativen, vom Massenzugriff abgeschirmten Demokratie versöhnt, die zu bekämpfen und abzuschaffen sie einmal ausgezogen war. Joschka Fischer ist aber auch, stellvertretend, ein verlorener Sohn.

Seinem Taktieren ist es zu verdanken, daß die Grünen heute ein bißchen wacklig auf den Beinen sind. Doch ohne ihn wären sie längst dahingesunken. Und vergleicht man Fischer mit Gerhard Schröder, dem neuen Superstar der SPD, dann wird auf einmal der Charme der Obergrünen spürbar. Gegenüber dem Medienmann Schröder wirkt der so medienerfahrene Fischer spröde, ein wenig altmodisch fast. Das hat nicht nur mit der Atmosphäre grämlicher Askese zu tun, die den Langläufer umgibt. Es liegt auch daran, daß er einen Ernst ausstrahlt, der der Politik verloren zu gehen droht. Insofern paßt er schon in eine Zukunft, die mutige Grüne braucht. Wenn er nur veranlaßt werden könnte, vom hohen staatsmännischen Roß herunterzusteigen und sich in die große Gesellschaft der Neugierigen zu begeben!

Thomas Schmid war Ende der sechziger Jahre gemeinsam mit Fischer im RK („Revolutionärer Kampf“), zählte später zum ökolibertären Flügel der Grünen und arbeitete mit Daniel Cohn-Bendit im Frankfurter Amt für multikulturelle Angelegenheiten.