■ Bei dem Dauerstreit in CDU und CSU geht es um Grundsätzliches
: Wer die Wahrheit liebt

Wolfgang Schäuble versteht die Welt nicht mehr. Da hat er die Beschlußlage der Union, im übrigen auch die der CSU, zu den Energiesteuern in den Entwurf des Wahlprogramms geschrieben, und plötzlich geißeln ihn ungenannte CSU-Minister in Bild am Sonntag als „linksökologischen“ Spinner. CDU-Vorstandsmitglied Heiner Geißler keilt zurück und beschwert sich über die „stur reaktionären Leute“ bei der bayerischen Schwesterpartei. Aber nicht nur dort.

Matthias Wissmann, der Transrapidfahrer und neue wirtschaftspolitische Sprecher der CDU, ging letzte Woche auch schnell auf Distanz zu seinem Fraktionsvorsitzenden und verschob die Präsentation der wirtschaftspolitischen Leitlinien erst einmal auf den kommenden Donnerstag. Wenn er gehofft hatte, daß der Krach sich über Ostern legt, verschiebt er seine Leitlinien am besten gleich noch mal. Der Krach geht munter weiter.

Denn die CDU/CSU ist heillos in sich selbst verkeilt. Kaum tönt der stellvertetende CSU-Vorsitzende Friedrich, die Debatte um die Ökosteuer sei beendet, kein Mensch in der Union wolle einen nationalen Alleingang, macht sein quicker Landesvater ein neues Faß auf. Die Zuständigkeit für Europa soll dem Außenminister entzogen und entweder im Kanzleramt oder in einem Europaministerium angesiedelt werden. Schließlich sei das, was in Brüssel beschlossen wird, längst Innenpolitik. Das Versagen von Kinkel bei der Agenda 2000 zeige, daß deshalb auch ein Innenpolitiker an die Schalthebel der Europapolitik gehöre.

Wenn man einmal davon absieht, daß es Stoiber nur um die schnöden materiellen bayerischen Interessen geht – sachlich hat er recht. Europapolitik ist mehr und mehr Innenpolitik – je erfolgreicher Europa ist, um so mehr innenpolitische Kompetenzen wandern nach Brüssel. Doch so wenig Schäuble seine sachbezogene Steuerpolitik gedankt wird, so wenig kann Stoiber – wenn er es denn will – mit einer inhaltlichen Debatte über Europa rechnen. Auch wenn er wie Schäuble darauf verweisen kann, daß er diese Position doch schon lange vertrete. Nicht nur Kinkel hält Stoiber für einen schwer erträglichen „Europanörgler“, auch der CDU-Außenpolitiker Karl Lamers weiß, „daß uns diese Debatte sehr schadet“.

Die Wahrheit, dies mußten schon die Grünen schmerzlich feststellen, ist im Wahlkampf ein noch kostbarerer Rohstoff als in Friedenszeiten. Für Parteien einfach zu teuer. Nachdem Bündnisgrün in den Umfragen in den Keller rutschte, geht es jetzt mit der Union bergab. Zehn Prozent, die größte Differenz zwischen SPD und CDU in der Geschichte der Bundesrepublik, machte Forsa-Chef Manfred Güllner über Ostern aus. Und der Trend bleibt bei den Sozis. Wenn die am Freitag beim Wahlparteitag in Leipzig ihren Hoffnungsträger endgültig in den Himmel jubeln, wird die Union weiter um ein Rezept streiten, wie sie in Sachsen-Anhalt zehn Tage später wenigstens noch die PDS im Kampf um Platz zwei schlagen kann. Wenn nicht alles täuscht, wird die Union am 26. April einen tiefen Blick in den Abgrund tun. Erst dann wird sich zeigen, wer bei den Christdemokraten die Wahrheit liebt. Erst dann wird es sich zeigen, ob es in der Union Leute gibt, die es trotz Wahlkampf zu sagen wagen, daß der Streit ja im wesentlichen nicht um Ökosteuer oder Europapolitik geht, sondern um die Linie im ganzen. Während die Grünen damit hadern, was man im Wahlkampf sagen darf und was nicht, während die SPD sich darauf beschränkt zu sagen, „Wir sind bereit“, ist in der Union im Angesicht der drohenden Niederlage der Kampf um die zukünftige Gestalt der Partei voll entbrannt.

Während Schröder eine „neue Mitte“ für sich reklamiert und die Partei völlig in den Hintergrund gerät (in Leipzig wird die Programmdiskussion in einer Stunde erledigt), versucht Schäuble verzweifelt, noch vor der Wahl eine „neue CDU“ kenntlich zu machen. Sein Problem ist, daß er dies an Kohl vorbei, zum Teil gegen den Kanzler versuchen muß. Dieser Widerspruch wird sich bis zur Bundestagswahl nicht mehr auflösen, weil Kohl und die „neue CDU“ ein Widerspruch in sich sind. Solange Schäuble diese Wahrheit verschweigen muß, wird seine sonstige programmatische Wahrhaftigkeit ihm wenig nutzen. Vor einem gesellschaftlichen Reformkonzept steht eine Reform der Union. Jürgen Gottschlich