Vateraugen aus Rosinen

■ Die Hamburger Autorin Yoko Tawada entwirft in „Talisman“ein eher merkwürdiges Bild ihrer Wahlheimat und der Sozialpraktiken der Bewohner

Hamburg sieht auf den ersten Blick nicht sehr gefährlich aus. Zumindest in Yoko Tawadas Erzählung Talisman. Ein bißchen menschenleer wirkt die Stadt zwar schon, aber das ist keine Erklärung für die merkwürdigen und abergläubischen Praktiken ihrer Bewohner. Frauen tragen Metallstücke in den Ohren, ziehen Pullover mit Tigerköpfen an und befestigen Aufkleber mit Bildern böser Gegenstände an der Wohnungstür – wären es Rituale zur Vertreibung von Geistern, fügte sich alles zu einem schlüssigen Bild zusammen und ergäbe einen Sinn.

Und genau das tut Yoko Tawada: Sachen sehen, Bilder suchen und Geschichten finden. „Jedes Ding ist ein Knotenpunkt in einem Netz“, sagt sie. Verfolgt man die Fäden, taucht eine Geschichte auf. Hört sich einfach an, ist es aber nicht. Wir sehen die Welt so, wie wir es gelernt haben, und das meiste, was diese Brille durchläßt, ist literarisch gesehen tot. Erst ihr Absetzen läßt es zu, lebendige Bilder zu finden. Das wiederum hört sich schwierig, aber vollkommen logisch an. Wenigstens wenn Yoko Tawada es erklärt.

Viele ihrer Werke vermitteln den Eindruck gelungener Experimente. „Dienstags esse ich gerne meinen Vater“, heißt es in Die Rosinen-augen. „Er ist aus Brotteig gemacht“, und schwarze Rosinen sind seine Zitzen. Sie hat sie noch nie gesehen, aber „einmal am Tag wachen sie auf und springen aus seinem Fleisch wie Geschrei“. Absurd? Diese Zuschreibung will Yoko Tawada nicht gelten lassen. „Ich glaube, die Leute wollen damit sagen, daß man keine logischen Schlüsse ziehen kann.“

Auf Lebenslauf und Werk der 38jährigen wird oft das Etikett „fremd“geheftet: Geboren in Tokio, lebt sie seit 1982 in Hamburg, schreibt Gedichte, Prosa und Essays in deutsch und japanisch und gewann unter anderem 1993 den „Akutagawa-Sho“, den angesehensten japanischen Literaturpreis. In diesem Winter wurde sie als fünfte Poetik-Dozentin nach Tübingen eingeladen. Die Vorlesungen erschienen wie ihre übrigen Werke im Tübinger Konkursbuchverlag Claudia Gehrke.

Mit dem Begriff der Fremdheit hat die Autorin keine Schwierigkeiten, sofern es als literarische Methode aufgefaßt wird. Fremd-sein heißt für sie nicht, sich unbehaglich zu fühlen. Man müsse im Gegenteil Vertrauen haben und die Dinge genauso wie die Sprache loslassen, um sie für die Literatur nutzen zu können.

Das Ergebnis von Yoko Tawadas besonderem Verhältnis zur Sprache reizt oft zum Widerspruch. „Wenn ich spreche/ bin ich nicht da“, sagt sie in Ein Gedicht für ein Buch. Ist sie aber doch.

Barbora Paluskova

Gespräch, Lesung und Begegnung mit Yoko Tawada: Fr, 17.April, 17 Uhr, Katholische Akademie