Juchhe! Frisch klaffen die Spalten am Palü

■ Polierte Stummfilm-Berge mit neuer Musik („Die weiße Hölle vom Piz Palü“, arte 23.55 Uhr)

Siegestaumel am 16. November 1929. Beim Film-Kurier, dem Branchenblatt, gerät der Rezensent ins Stammeln: „Ein Epos: ein Kampfwerk.“ „Die weiße Hölle vom Piz Palü“ reißt ihre Kritiker mit; Legionen von Schneekoppen, Stürmen und Stürzen lassen nur eins gelten: den Superlativ.

Und nun haben die Taurus-Film der Kirch-Gruppe, das ZDF und arte sowie die Stiftung Deutsche Kinemathek weder Heller noch Pfennig gescheut, das Bergmelo zu restaurieren, den Gipfelstürmer des Jahres 1929, der gleichermaßen die Prädikate „volksbildend“ und „künstlerisch wertvoll“ bekam, eines der letzten deutschen stummen (1935 nachvertonten, nun erneut verstummten) Filmkunstkampfbergwerke.

Allein die Berge zählen da. Nun sind sie wieder da. Panoramaesk breit, eine Dreiviertelstunde über der letzten Fassung, die fast ebensoviel Menschliches, aber deutlich weniger Piz Palü enthielt, weniger Close-ups vom wahren Helden dieses Kino-Requiems.

Trotzdem sieht man Ungesehenes in dieser Rekonstruktion, gänzlich bergfern und nebenbei: Kurt Gerron, rot und und verschwitzt in jenem Tanzsalon, wo Flieger Ernst Udet die Unglücksnachricht der im Berg Verschollenen erreicht. Der Kürzestauftritt Gerrons, ein Exempel ökonomischen Drehens: Fancks Co-Regisseur G.W. Pabst, hier nur im Innendienst (Abteilung: Atelierszenen) verwendbar, hatte Salon-Set und Schauspieler im Juni '29 schon für einen anderen Film einrichten lassen. So sahen Kinogäste den besoffenen Salon-Gerron am gleichen Tresen gleich zweimal.

Und was man auch auf keinen Fall verpassen darf: eine Sternstunde verklemmt-frivoler Metaphorik, wie es wohl nur in Kampfwerken wie diesen möglich ist. Mit Leni Riefenstahl (der Regisseurin von „Triumph des Willens“ und „Olympia“ „werfen Kritiker bis heute vor, ihre Filme hätten Propagandacharakter...“, flüstert sich krümmend das Kirch-Presseheft) stemmten Fanck und Pabst einen Teufelskerl ins Eis: die Frau als Eisberg, der bestiegen und dessen Geheimnis gelüftet sein will. Als Weib, das dem mythischen Führer ebenbürtig sein will und sich im Grunde mit ihm vermählt statt mit dem Angetrauten, der letzthin gerettet wird. Ganz früh sieht man das: In verschneiter Hütte schläft Riefenstahl zwischen zwei Männern; ihr Kopf rollt von der Seite des Bräutigams auf die Hand des finsteren Gustav Diessl. Fanck sah im Manuskript folgenden Zwischenschnitt vor: „Unheimlich brummt unten der Gletscher auf, in dem eine Spalte klaffend aufreißt.“ Im Film bricht immerhin die Sonne durch zwischen den Schenkeln eines Wolkengebildes.

Schließlich das Wichtigste: Jetzt nämlich hat Ashley Irwin zum aufpolierten Film eine neue Filmmusik komponiert und unter Frank Strobels Leitung mit dem Deutschen Filmorchester Babelsberg eingespielt. Irwin! Der Mann, der 1992 die Oscar-Verleihung musikalisch einkleidete. Voller Höhen und Tiefen, wie sich das gehört für einen Bergfilm. Gerald Koll