Kunst oder Kollaps

■ Terry Zwigoffs brillanter Dokumentarfilm über den Undergroundzeichner Robert Crumb läuft in Hamburg an

Es ist allerhöchste Zeit, daß sich so einer wie Robert Crumb wieder zu Wort meldet. Jetzt, wo sich in den USA eine neue, kulturfeindliche Rechte im Parlament breitgemacht hat und den liberalen Konsens rücksichtslos in Frage stellt, müßte seine böse Feder wieder zustechen. Doch der US-amerikanische Comic-Zeichner Robert Crumb, unbestrittene Schlüsselfigur des Comic-Underground der sechziger und siebziger Jahre, hat sich vor zwei Jahren mit seiner Familie nach Südfrankreich zurückgezogen. Frankreich sei „nicht ganz so fürchterlich wie die USA“, ließ er die Daheimgebliebenen wissen.

Mit dem Aufbruch nach Eruopa endet der Dokumentarfilm Crumb von Terry Zwigoff, ein verwirrendes, intimes, oft komisches und manchmal auch abstoßendes Porträt des Comic-Künstlers. Seit dem Sundance Film Festival im Januar und der Berlinale zählt Crumb zu den aufregendsten Dokumentarfilmen dieses Jahres und das mit gutem Recht. Zwigoffs Film ist mehr als das redliche Porträt einer Künstlerpersönlichkeit, die unsere Bilderwelt immerhin um solche unsterblichen Geschöpfe wie „Mr. Natural“, „Flakey Foont“ und „Fritz the Cat“ bereichert hat.

Indem uns Zwigoff mit den intimen und manchmal auch ziemlich unappetitlichen Details dieses Künstlerlebens konfrontiert, öffnet er den Blick für komplexere Einsichten. Ganz unwillkürlich beschleicht uns nach knapp zwei Stunden die Erkenntnis, daß eine derart traumatische Kindheit, wie sie Crumb im Philadelphia der Nachkriegszeit durchlebt hat, allenfalls in der Kunst oder der völligen Katastrophe enden konnte.

Die Liebhaber von Robert Crumbs Zeichenkunst schätzten immer schon seinen anarchischen Witz, den sublimen Haß auf das Establishment und die ätzende Selbstironie. Doch obwohl sich Crumb selbst oft ins Zentrum seiner Bildergeschichten rückte, wußte man bisher ziemlich wenig über ihn. Schüchtern, linkisch und von einer unheilbaren Misanthropie befallen, weigerte er sich stets, die Welt mit „dem kleinen Typen in seinem Gehirn“ kommunizieren zu lassen.

Wer dem Erfinder monströser Sexgeschichten auf die Schliche kommen wollte, mußte sich vor allem Zeit nehmen, und das hat Terry Zwigoff getan. Fast sechs Jahre lang ist er seinem Freund Robert nicht von der Pelle gerückt, hat ihn in seiner engsten Umgebung gefilmt und zahllose Gespräche mit Kritikern und Kollegen, mit ehemaligen Gebliebten und Ehefrauen und mit den Mitgliedern der ziemlich schrägen Crumb-Familie geführt.

Wo sich Robert Crumb einer allzu intimen Annäherung durch obszöne Späßchen oder Schweigen widersetzt, fügen die Interviewpartien neue Facetten und perspektivische Ergänzungen hinzu. Daß Zwigoff mit seiner Hartnäckigkeit bis in den familiären Bereich vordringen konnte, gibt dem Film Momente beängstigender Schärfe. Mit den Brüdern Charles und Max treten nämlich die tragischen Kontrastfiguren dieser Erfolgsstory in Erscheinung. Beide sind intelligent und talentiert, und doch finden sie beide keinen Ausweg aus dem engen Loch der Kindheit. Während sich der hochgebildete Charles, vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln, im Haus der kreischenden Mutter verbunkert, vegetiert Max in einem fliegenschissigen Hotel in San Francisco, wo er sich mit Übungen auf dem Nagelbrett kasteit, dahin.

Warum gelang es am Ende nur Robert, seine dunklen Visionen und traumatischen Erfahrungen in Bildergeschichten zu verarbeiten? Terry Zwigoff stellt diese Frage, aber er ist auch klug genug, sie nicht zu beantworten. Mit Crumb ist ihm ein Film gelungen, den sich niemand entgehen lassen sollte, der jemals den Namen Crumb gehört hat. Rolf D. Suhl

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