Fragen des Erbgesundheitsgerichts

■ Die „schizophrenieerfahrene“ Dorothea Buck erzählte von ihrem Überlebensweg

Wie eine jener Kreativ-Omis sieht sie aus. Man erwartet unwillkürlich, daß Dorothea Buck gleich beginnen wird, selbstgemalte Weihnachtskarten zu verkaufen. Eigentlich wollte sie immer Kindergärtnerin werden, erzählt sie der kleinen Zuhörergruppe im Turmzimmer der St. Georgskirche, aber das durfte sie dann ja nicht mehr. Dieses „dann“ bezieht sich auf ihre Zwangssterilisation 1937, die ein von den Nazis eingesetztes „Erbgesundheitsgericht“ über die damals 19jährige verhängt hatte. Die Urteile von damals, die Menschen wie Dorothea Buck für minderwertig erklärten, sind nie aufgehoben worden. Ihre Annulierung ist eines der Ziele, die sich der 1992 von ihr mitbegründete „Bundesverband Psychiatrieerfahrener“ gesetzt hat.

Dorothea Bucks Leidensweg durch die Psychiatrien des Dritten Reiches begann 1936, als im elterlichen Pfarrhause auf Wangerooge ihre Schizophrenie ausbrach. So erzählt sie im Rahmen der von der Neuen Gesellschaft initiierten Veranstaltungsreihe „(Über)Lebenswege“. Zwei Überzeugungen beherrschten sie damals von einem Moment auf den anderen: Sie sei die Braut Christi, und ein schrecklicher Krieg würde herannahen. Das Erleben dieser Psychosen war für sie einerseits eine Befreiung, denn zum erstenmal traute sie sich, ihre Gefühle und Eingebungen ungehemmt auszuleben. Andererseits bestimmten die damit verbundenen Verhaltensauffälligkeiten ihr weiteres Schicksal. Als sie eines Nachts dem Morgenstern ins tückische Wattenmeer nachfolgte und dabei fast ertrunken wäre, brachten ihre Eltern sie nach Bethel. Dort erlebte sie im folgenden Jahr die Behandlungspraxis einer noch im 19. Jahrhundert verwurzelten Psychiatrie: Mit Dauerbädern und kalten Packungen wurde versucht, die durch unentwegtes Herumliegen unruhig werdenden Patienten ruhigzustellen. Niemand habe dort mit einem gesprochen, nichts habe man tun dürfen. Eines Tages, so erzählt Buck weiter, habe man sie vor einige Herren gebracht, die ihr ein paar Fragen stellten, einem „Erbgesundheitsgericht“. Kurze Zeit später wurde sie verlegt und, nachdem ihre Mutter die Zustimmung zur Zwangssterilisation als Alternative zu dauerndem Heimaufenthalt gegeben hatte, der „kleine, notwendige Eingriff“ an ihr vollzogen. Worum es sich dabei gehandelt hatte, erfuhr sie erst viel später.

Die Erfahrungen Dorothea Bucks mit den grauenvollen Seiten der NS-Psychiatrie brechen hier ab. Nach ihrer Entlassung versucht sie sich als Töpferin, beginnt das Studium der Bildhauerei. Nach dem Krieg beginnt sie langsam ihre Selbstheilung, indem sie den Symbolcharakter ihrer Psychosen erkennt und sie in ihr Leben zu integrieren versucht.

Manche von den Zuhörern sind Leidensgenossen Dorothea Bucks, einige haben noch furchtbarere Dinge erlebt. Ein alter Herr erzählt bruchstückweise von seinem Weg durch die Alsterdorfer Anstalten: mit 14 Jahren sterilisiert, kahlgeschoren, ausgepeitscht, gedemütigt. Ein sehr persönlicher Bericht. Ein darüber hinausgehendes Bild dieser lange totgeschwiegenen Seite des Dritten Reiches entsteht an diesem Montag abend allerdings nicht. Weitergehende Informationen, die die Untaten in einen größeren Maßstab gesetzt hätten, bleiben aus. Die hätte der Präsentator von der Geschichtswerkstatt St. Georg liefern müssen, doch der hatte sich nur oberflächlich vorbereitet.

Jörg Königsdorf

Am 25. September wird Esther Bejarano von ihrem Schicksal berichten.